Sonntag, 21. April 2013

Großstadtdschungel

Hey Everybody,

einfach mal raus, den Alltag hinter mir lassen - davon habe ich eine ganze Weile geträumt. Nun ist so weit. Seit Anfang der Woche bin ich in Kanada, vor mir: ein Abenteuer! Wer mag, kann es auf diesem Blog hier gern verfolgen. In den kommenden 5 Monaten werde ich versuchen, wöchentlich einen kleinen Einblick in das zu geben, was ich hier erlebe. Und natürlich wie es sich für mich anfühlt. Ein episodenhafter, in jeder Hinsicht ungeplanter, nicht immer ganz ernst zu nehmender und absichtlich alles andere als perfekter Reisebericht, für all jene, die sich für mich oder meinen Weg interessieren. Hope, you enjoy!

Die erste Woche hat es bereits in sich: Dass ich den etwa 13-stündigen Hinflug am Montag, den 15. April, mit ein wenig Bauchschmerzen antrete, sollte sich bald als verständlich herausstellen. Anfang Dezember 2012 sollte die Bewerbung um die limitierte Anzahl von Work-and-Travel-Visa ursprünglich starten. Die kanadische Botschaft hat in diesem Jahr allerdings ihre Abläufe geändert und auf ein mehrstufiges Verfahren umgestellt, das ausschließlich Online funktioniert. Dabei gab es offensichtlich größere technische Probleme. Jedenfalls ging es erst Mitte Februar los mit einem bürokratischen Drama in diversen Akten. Einzelheiten ich Euch gern. Nur soviel: die durchschnittliche Bearbeitungsdauer ist mit rund 8 Wochen angegeben. Aber der Hinflug für Mitte April war längst gebucht, schließlich soll die Reisekasse nicht schon in der Atmosphäre in Turbulenzen geraten. Somit war klar: Es wird ein Rennen gegen die Zeit.

Blick aus Flugzeugfenster auf Schneegipfel

Die gute Nachricht: habe einen der begehrten 4000 deutschen Bewerberplätze ergattern können. Die Schlechte: muss den Flieger von Tegel über Amsterdam nach Vancouver besteigen, ohne ein Visum in den Händen zu halten. Das Ende vom Lied: für die pflichtbewussten - oder vielleicht auch nur ein bisschen gelangweilten - Zöllner am Flughafen der beliebten, westkanadischen Metropole bin ich ein gefundenes Fressen.

In einem Seitentrakt der Passabfertigung üben sich gleich 3 humorbefreite Staatsbeamte darin, einen zunehmend verunsicherten Deutschen, mit skeptischen Fragen zu löchern. Wie lange ich bleiben wolle, was der Zweck meiner Reise sei, welchen Beruf ich ausübe, warum ich das Visum noch nicht habe und vieles mehr, was sich aus den Antworten ableiten lässt, wollen die strengen Uniformträger wissen.

Um mich keinesfalls in irgendwelche Widersprüche zu verstricken, stotter ich in bestem, 15 Jahre abgehangenen Schulenglisch von Anfang an die Wahrheit - dass ich als Tourist einreisen möchte, um mir ein wenig Vancouver anzuschauen und plane, so schnell wie möglich mit dem von den nur suboptimal arbeitenden kanadischen Behörden hoffentlich bald mal bescheinigten Visum - nach kurzem USA-Trip - neu einzureisen. Dann als offiziell Zeitweise Arbeitsberechtigter. Mhh, die Stirn meines Gegenübers zerfurcht sich in immer tiefere Falten. Falls überhaupt möglich, wird nun noch haspliger, was ich versuche, unerschütterlich selbstbewusst mit den Englischkenntnissen auszudrücken, die ich durch diese Reise eigentlich verbessern wollte. Seufz!

Bekomme mit, wie in einem separaten Nachbarraum Reisende hinter verspiegelten Scheiben anscheinend schon seit Stunden ausharren müssen. Neben einigen Asiaten hockt dort ein wütender Nordafrikaner, eine attraktive Mexikanerin und eine indische Großfamilie. Was sie gemeinsam haben, sie sehen unglücklich aus. Und irgendwie auch hoffnungslos. Muss gestehen, in diesem Moment steht mir der Angstschweiß schon auf der Stirn. Eigentlich sogar nicht nur da. Male mir bereits das Gespött deren aus, bei denen ich mich seit einem gefühlten halben Jahr vollmundig und unerschrocken ins große Abenteuer verabschiedet habe. Wie könnte ich denen wohl die Geschichte erzählen, dass ich keine Woche später zurück im schönen Deutschland bin, ohne dabei allzu blöd auszusehen. Ich meine, als braver EU-Bürger vom megaliberalen Kanada nicht mal als Tourist akzeptiert zu werden, das muss erst mal einer schaffen.

Uff! Ausgerechnet mich soll es treffen, mich, den überkorrekten Neunmalklug, den oft unnötig vorausplanenden Sicherheitsfanatiker? Denke so bei mir: Geschieht ihm Recht, diesem verkopften Akademiker. Was bildet der sich eigentlich ein - dem Leben mal spontan begegnen, die Fesseln des Vorausdenkens ablegen, aus'm Bauch raus leben - phh, das is was für Profis, so was muss man vorher bestimmt üben!

Dann die Erleichterung. Weil ich in meiner Not intuitiv eine Antragsnummer aus den bewusst spärlich gehaltenen Reiseunterlagen nestle, kommen die Beamten auf die atemberaubende Idee, vielleicht mal anhand ihrer Computer-Datenbank zu prüfen, was an meiner ach so unglaubwürdigen Geschichte unter Umständen dran sein könnte. Wenige Minuten später kommt einer der Zöllner aus dem Büro zurück. Und siehe da, das fertig genehmigte und von der Behörde gestempelte Original-Visum lag bereits seit einer Woche am Flughafen - inklusive der so wichtigen temporären Arbeitserlaubnis.

Das hätten wir auch schon mal 2,5 Stunden früher checken können. Aber da war ich wahrscheinlich noch zu sehr damit beschäftigt, mich einfach mal ganz locker zu machen. Außerdem: ein bisschen Adrenalin nach einer ganztägigen Reise kann ja nicht schaden. Fühl mich jedenfalls wieder richtig wach, als ich zwar ziemlich durchgeschwitzt, dafür aber mit einem kleinen, bunten, in meinen Reisepass getuckerten Stück Papier endlich aus dem Flughafen schreite.

Arbeitserlaubnis für Work&Travel-Visum

Durch die Zeitverschiebung ist es da gerade mal Nachmittag, während mein Körper auf so was wie deutlich nach Mitternacht gepolt war. Drücke die Brust raus und beschließe, das Ganze positiv zu sehen. Vielleicht wollten mir die Zöllner nur eine Gratis-Portion Adrenalin spendieren. Soll ja den Jetlag erleichtern. Wie auch immer, hatte vorher keine Ahnung, wie stolz ich auf ein Stück Papier sein könnte, das es mir erlaubt, mich als billiger Gelegenheitsarbeiter auf einem anderen Kontinent ausbeuten zu lassen. Glaube, mein Abenteuer beginnt schon in der Großstadt.

Porträt mit Reise-Western-Hut in Davie St

Das urbane Dickicht hält mich aber auch den folgenden Tagen in Schach. So steht gleich am folgenden Tag, Dienstag, den 16. April, ein Orga-Tour durch Vancouver auf dem Programm. Konkret heißt das: Sozialversicherungsnummer (sin) beantragen, Bankkonto eröffnen, den geeignetsten Handyanbieter herausfinden und natürlich eine bezahlbare Bleibe finden. Denn das Hotel, das ich für die ersten zwei Nächte - so ganz spontan - vorsorglich von Deutschland aus gebucht hatte, kann ich mir auch auf kurze Dauer kaum leisten.

So lande ich nach ein bisschen Recherche bei einem Hostel in Downtown. Gucke dort auch gleich vorbei und bin überrascht - macht einen guten Eindruck. Nix da von den Horrorgeschichten, die kursieren, wonach sich Horden rüpeliger Jungerwachsener auf ihrem internationalen Partytrip regelmäßig nach durchzechten Nächten in ihre bis zu 12-Betten-großen Schlafsäle übergeben. Nein, hier geht es auf den ersten Blick gediegen zu. Dazu zentral gelegen und mit 220 kanadischen Dollar pro Woche (rund 164 Euro) einigermaßen erschwinglich.

Das Beste daran: die große Gemeinschaftsküche. Hier schlägt das Herz des Hostels. Gute Geräte, viele Werkzeuge und vor allem die vorhandene Sauberkeit laden dazu ein, sich gern selbst zu versorgen. Eine Tätigkeit, die ich im stressigen Alltag leider nur allzu oft als zusätzliche Last empfinde. Dabei ist es doch so elementar, sich bewusst zu ernähren. Die Möglichkeit, das hier selbstverantwortlich umzusetzen, nehme ich freudig als Geschenk an. Außerdem treffe ich hier jede Menge Menschen aus jedem Teil der Welt - zu meiner Verwunderung auch aus allen Altersschichten. Tolle Gespräche. Offen. Und so tiefgründig, wie es die Sprachkenntnisse jeweils zu lassen. Alles in allem aber ein unglaublich multikultureller, kommunikativer Ort - aus meiner Sicht, Völkerverständigung im besten Sinne. Und sauber machen alle zusammen. Echte Teamarbeit:)

Gemeinschaftsküche im Hostel

Freitag, den 19. April. Trotzdem bleibt es für mich gewöhnungsbedürftig, zu viert in einem Zimmer zu schlafen und zu hausen, das vermutlich keine 15m² groß ist. Spüre zum ersten Mal ganz deutlich, wie wichtig mir Privatsphäre ist. Andere mögen diese Erfahrung schon früher oder an anderer Stelle gemacht haben. Ich jedenfalls sehne mich jetzt schon hin und wieder nach Hause, noch vor Ende der ersten Woche, wow! Das Kuscheln, Toben und Spielen mit der Familie fehlt mir am meisten.

Enges 4-Bett-Zimmer

Umso besser gelingt es, tagsüber loslassen zu können. Nur mit mir zu sein, keine Pflichten zu haben, keine Verantwortung für Andere zu tragen - das hilft mir ungemein, Kraftreserven aufzuladen. Und das wiederum ist die Grundvoraussetzung, auch meinen Mitmenschen Geben zu können. Trotzdem meldet sich hartnäckig ein kleiner Rest schlechtes Gewissen. Einen gesunden Egoismus zu finden, fällt mir schwerer als ich dachte.

Hab Mittwoch(17.4.) und Donnerstag(18.4.) größtenteils damit zugebracht, die Stadt per Fuß zu erkunden. Dabei sind eine Menge Fotos entstanden. Sie sollen diesen Blog in Kürze lebendiger machen. Die meisten Motive spiegeln das wahnsinnig vielfältige Stadtbild wieder. Aber auch die Menschen hier, beeindrucken mich. Die Lebensart in Vancouver kommt sehr unaufgeregt und lässig daher. Mir begegnen zumeist zufriedene Gesichter. Einheimische, denen es wichtig ist, freundlich, rücksichtvoll und respektvoll miteinander umzugehen.

Yachthafen vor verglasten Wolkenkratzern

Auch der für Nordamerika so typische Smalltalk scheint mir hier aufrichtiger zu sein, als er oft dargestellt wird. Mir fehlen leider persönliche Vergleichswerte. Aber wie auch immer, ich finde es ausgesprochen angenehm, an der Supermarktkasse in ein kleines Schwätzchen verwickelt werden zu können, ohne dass die Menschen in der Reihe dahinter sich dadurch gestört fühlten. Im Gegenteil, während die Kassiererin den Einkauf dann auch noch liebevoll in eine Tüte stapelt, klinken sich die Kandier sogar gern mal in ein Gespräch mit ein. An einer Aldi-Kasse in Berlin für mich nur schwer vorstellbar.

Bluehende Baeume vor Hochhaeusern

Hetzen und stressen ist also nicht angesagt in Vancouver, wie soll das dann erst in den abgelegenen Regionen werden? Naja, hoffentlich ein wenig preiswerter. Die Lebenshaltungskosten haben es nämlich in sich. Selbst für high-processed-food zahlt man hier schnell das Dreifache, mindestens aber das Doppelte dessen, was wir aus Deutschland gewohnt sind. So kostet die günstigste Packung Käse, die ich gefunden habe, stolze 6 kan.Dollar (rund 4,40 Euro). Zwar wird Bio groß geschrieben, für einen finanziell beschränkten Rucksack-Reisenden wie mich, ist vieles aber schlichtweg unerschwinglich. Ein Rindersteak ist im Supermarkt kaum unter 27 kan.Dollar (rund 20 Euro) zu bekommen. Einen guten Vergleich bietet auch der gute alte Döner, der ist hier nicht unter 6,50 (4,60 Euro) zu bekommen. Schmeckt trotzdem gut.

Merke schnell, ohne Job kommste hier nicht weit. Gucke daher schon am Samstag, den 20. April, stolz auf vier wagemutige walk-ins zurück, spontan initiierte Vorstellungsgespräche, in Läden, für die man sich berufen fühlt, tätig zu werden. Mit so einem persönlichen Auftritt, könne man sein besonderes Interesse, seine unerschütterliche Entschlossenheit ausdrücken, hab ich in einschlägigen Ratgebern gelesen. Ob mir das in den Sportgeschäften und Radverleihstationen gelungen ist, bezweifle ich mal. Mit einem freundlichen Lächeln haben die jeweiligen Bosse das in Kanada unumgängliche Résumé entgegengenommen. "Wir melden uns dann, ganz sicher", sagten sie. Einzig ihr besonderes Interesse und ihre unerschütterliche Entschlossenheit wollte ich bei diesen Worten nicht so recht spüren.

Dafür treffe ich in einem dieser Geschäfte, eine Deutsche, die sich inzwischen seit über 6 Monaten erfolgreich in Vancouver durchschlägt. Hilfreicher Kontakt. Treffe mich zusammen mit ihr und weiteren 'german friends' zum einen Burger und Bier im Pub. Erfahre, ne Menge über 'hard times' und 'unrealized dreams'. Dafür aber auch gute Tipps, wo und wie ich vielleicht doch an Gelegenheitsjobs komme. Baustellen suchen hier wohl immer. Finde, hat irgendwie wenig von Wildnis.

Egal, der Abend ist nett und für mich sind das ohnehin nur neugierige Gehversuche - falls ich doch noch mal hierher zurückkomme und mich über Wasser halten muss. Bis dahin hab ich aber andere Pläne. Ab in die Natur. Einen wichtigen Schritt dahin mache ich am heutigen Sonntag, den 21. April. Buche die Bustickets raus aus der Stadt. Mit Greyhound geht es in den nächsten Tagen rund 1000 Kilometer nach Norden, genauer gesagt nach Prince George. Von dort soll es dann noch mal 2, 3 Autostunden weiter gehen, endgültig weg von der uns bekannten Zivilisation. Wenn alles gut geht, lande ich dann in Fraser Lake, einem abgelegenen Plätzchen inmitten eines weiten seereichen Waldgebietes. Dort werde unentgeltlich für einen Farmer namens Cliff arbeiten - Blockhütten bauen, fischen, putzen und einiges mehr. Bin selbst gespannt. Als Gegenleistung gibt mir Cliff Bett & Brot. Und eine kräftige Portion Abenteuer:)

Meine erste Schreibwut dürfte dann auch raus sein. Verspreche, die kommenden Beiträge merklich kürzer zu halten. Außer ich treff 'nen Grizzley, der sich für meine Arbeitserlaubnis im Pass interessiert. Die Geschichte würde ich dann detailgetreu auskosten wollen;( Doch das ist Zukunftsmusik. Noch bin ich bis Mittwoch(24.4.) in Vancouver. Unter dem Strich eine faszinierende Stadt. Nicht nur weil hier gerade Kirschblüte ist, sondern weil hier ein einzigartiger Landschaftsmix zu finden ist: eine Millionenmetropole direkt am Meer, zugleich aber auch am Fuße eines Gebirges, das noch jetzt zum Skifahren einlädt - von den Parks, in denen man ohne weiteres vergessen könnte, innerhalb einer Stadt zu sein, weil sie Urwald-Charme versprühen ganz zu schweigen. Ein schöner Fleck Erde!

Uriger Waldsee

Beleuchtete Skyline vor Bergpanorama

Vielen Dank schon mal an alle, deren Interesse bis hierher gereicht hat! Freu mich übrigens über jeden Kommentar - egal wie kurz oder lang, wie anregend oder kritisch er auch ausfallen möge.

Liebe Grüße vom anderen Ende der Welt,
Euer Stefan Sperfeld.

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