Samstag, 4. Mai 2013

Der vergessene Colt

Donnerstag, 25. April
Starte mit einer kleinen Sensation in den Tag: Als ich gegen 5:00 Uhr meine Augen aufschlage, bin ich tatsächlich vor meinem Wecker dran! Putzmunter. Auf einmal. Tse, was so ein Reisetag alles mit sich bringt. Dabei klingt es nur bedingt verlockend, den ganzen Tag, eingepfercht auf ein und demselben Platz, im Bus durch das zweitgrößte Land der Welt zu gondeln. Scheine trotzdem ein wenig aufgeregt zu sein. Naja, kenne schließlich Greyhound bisher nur aus Hollywoodfilmen – wird schon was Besonderes sein.

Pose mit Gepäck vor Fernbusbahnhof

Habe dann auch genug Zeit, nach dem Besonderen Ausschau zu halten. Trotz des ausgedehnten Morgenspaziergangs in den Sonnenaufgang – einem mit 20 Kilo bepackten Fußgänger können selbst 45 min lang vorkommen – erreiche ich den Busbahnhof mehr als 1 Stunde vor der geplanten Abfahrt. Aber hat auch sein Gutes: Muss beim Gepäckwiegen nicht anstehen. Wie ich später bekomme, bleibt mir dadurch sogar noch ´ne Sicherheitskontrolle erspart. Schlichtweg deshalb, weil die Uniformträger ihren Posten vor dem zentralen Ausgang zu den 2 Dutzend Bahnsteigen erst pünktlich um 7:00 Uhr beziehen. Frag mich, ob das für „Schläfer“ wohl früh genug ist.

Fahrplan mit Stationen

Gefesselt wird meine Aufmerksamkeit letztlich aber von einer anderen Tatsache. Habe gerade Tagebuch und Kugelschreiber heraus gekramt, um die restlichen 25 min bis zur Abfahrt mit etwas Sinnvollem zu überbrücken, da startet der Busfahrer den Motor. Stopfe alles schnell wieder ins Handgepäck, prüfe hastig noch mal Busnummer sowie Bahnsteig und stelle mich deutlich sichtbar vor den Bus. Nicht das der Kerl mich übersieht und ausversehen ohne mich losfährt.

Stattdessen ernte ich einen leicht verwirrten Blick. Der Busfahrer steigt aus, geht mit verantwortungsbewusster Miene und zügigen Schrittes um sein Gefährt, öffnet die Ladeklappen und verschwindet. Stehe da wie bestellt und nicht abgeholt. Immer bereit, einer möglichen Anweisung zu folgen. Nach einer Viertelstunde schwindet mein Elan. Bin zwar noch ein wenig aufgewühlt, aber vom Busfahrer ist, weit und breit nix zu sehen. Nur der Motor läuft fleißig. Guten Morgen, liebes Kyoto-Protokoll!

Oder eher: Gute Nacht! Denn das erste Mal wieder ausgemacht wird der Bus sage und schreibe 8,5 Stunden später – vermutlich aber auch nur deshalb, weil es an der Zapfsäule vorgeschrieben ist. Ansonsten darf die Dreckschleuder bis dahin sämtliche Pausen hindurch weiter im Takt Dreck schleudern.

Berglandschaft aus Busfenster

Flusschnelle

Fluss im Tal neben Straße

Habe zu diesem Zeitpunkt allerdings längst 2 andere Erkenntnisse gewonnen: Zum einen, war es eine großartige Idee des Farmers, auf dessen Weg zu ihm ich mich befinde, tagsüber zu fahren. So offenbaren sich mir in den zahlreichen Gebirgspassagen Panoramen, die mir den Mund offen stehen lassen. Zum anderen, wird mir nicht zuletzt an den zusteigenden Mitfahrern mehr und mehr klar: ich bin auf dem Land. Und zwar weit, weit weg von dem, was ich als Zivilisation empfinde.

Das Blöde daran: Mit meinen romantischen Vorstellungen von Trappern, die hier im dünnbesiedelten Norden Kanadas im Einklang mit der wilden, größtenteils unberührte Natur leben, hat das alles wenig zu tun. Die kleinen Nester alle 50 Kilometer am Highway sind eher Inseln der nötigsten Infrastruktur. Tankstelle, Motel, Supermarkt, Bank und ein Imbiss. Vielleicht noch ´n Liqour-Store. Aber für Arzt, Autowerkstatt oder Baumarkt sollte man vorher schon genau recherchieren.

Exemplarisches Highwaystädtchen

Auf jeden Fall machen die Orte alle einen ziemlich runtergekommenen Eindruck. Einige vereinsamte Bretterbuden versprühen noch am ehesten so etwas wie Wild-West-Cowboy-Charme. Fahre aber in der Regel durch dreckige Siedlungen aus Beton-Containern. Hier dominiert versifftes Fernfahrer-Flair. Farbige Häuserwände sehe ich keine, dafür umso mehr schäbige Fassaden inklusive übergroßer, nicht minder defekter Reklame-Schilder, verrostete Monster-Pick-Ups oder dürftig zusammengeknüpperte Stromleitungen. Spüre, wie sich in mir auf gewisse Weise alles ein wenig zusammenzieht.

Kämpfe auch gegen den aufsteigenden Ekel vor den ebenfalls abgeranzt wirkenden Menschen, die hier leben und den Bus jede Station weiter füllen. Allein mein Sitznachbar bringt es fertig, den Abfall auch schon mal auf den Fußboden zu befördern, eine im Plastikbeutel ausgelaufene Bierdose aus dem nun tropfenden Beutel auf Ex zu trinken (bekleckern inbegriffen), um das Gebräu nicht wegschütten zu müssen und seinen verschwitzten Arm dauerhaft und selbstverständlich auf unserer gemeinsamen Armlehne zu platzieren.

Neben den zumeist zerschlissenen Arbeitsklamotten fallen mir bei diesen Zeitgenossen noch zwei weiter Merkmale ins Auge, die überdurchschnittlich oft übereinstimmen: sie tragen ein Basecap und sie haben schlechte bis kaum mehr Zähne im Mund. Die Gespräche, die sie untereinander führen, sind laut, teilweise quer durch den Bus und oft von schnoddrigem Gelächter durchzogen. Fühle mich fremd.

Bin ich ja auch. Stell mir vor, wie die Anderen mich wohl sehen. Vielleicht als schnöseligen Städter, der sich in ihre Gegend verirrt hat. Einen dieser Möchtegern-Abenteurer, die sich damit brüsten wollen im rauen Norden gewesen zu sein, sich dann aber schon in die Hose machen, wenn ihre Klamotten mal ´n bisschen Schlamm abbekommen. Oder einfach nur, weil ´ne Maus durch die Fast-Food-Bude rennt.

Hab keine Ahnung, was in ihren Köpfen vorgeht. Ein nettes Gespräch kommt jedenfalls nicht zustande. Wahrscheinlich liegen sie mit ihrer Einschätzung genauso richtig oder daneben wie ich mit meinen oberflächlichen Bewertungen und voreiligen Schlüssen. Glaube, alles in allem wirke ich in dieser Szenerie mindestens genauso strange. Meine Erkenntnis des Tages: Toleranz tatsächlich zu leben, ist mitunter schwieriger, als sie von der Couch aus zu fordern.

Trotzdem: Merke, wie ich mich innerlich ungewollt hochspule. Werd einfach den Gedanken nicht los, hier unter Menschen zu sein, die fernab der urbanen Welt, ihre eigene Vorstellung von Recht haben. Nach dem Motto: Hängt den Bastard erst mal, dann können wir immer noch klären, ob er Schuld hat! Vermutlich hab ich einfach zu viele Filme über kautzige Südstaatler in den USA gesehen. Dennoch: Zu meinem allgemeinen Unwohlsein gesellt sich nun ein Fünkchen Angst. Zu dumm, dass ich bei meinen Reisevorbereitungen den Colt vergessen hab.

Cowboyland

Kühe auf Weide

Dann ein Geistesblitz: Bewege mich in einer fremden Kultur. Nein? Doch! Orrrh. Es dämmern mir weitere kolossale Erkenntnisse, etwa: Bin sogar freiwillig hier. Nein? Doch! Uih. Oder wie: So exotisch wie auf ´nem kleinen Kannibalen-Archipel geht´s ja hier nun auch nich gerade zu. So sieht´s mal aus!

Ein kurzer Moment gedanklicher Klarheit. Nutze ihn, in dem ich mich inständig ermahne, offen, tolerant und neugierig zu bleiben! Was hab ich denn erwartet – einen zweiten Park Sanssouci? Hab mich aufgemacht, in eine andere Welt abzutauchen. Also bitte! Dass dieses andere Ende unseres Planeten auf mich im ersten Moment ein bisschen abgehalftert wirkt, geschenkt. Besiegle meinen inneren Dialog mit dem Entschluss, diese Fahrt als bewegende Erfahrung abzuspeichern.

Und doch bleibt die Frage, was genau ich hier eigentlich mache, in meinem Kopf irgendwie präsent. Eine Frage, die mir während dieser Reise vermutlich noch öfter begegnen wird. Bin jedenfalls heilfroh, nach 12-stündiger Tour, den Bus in Prince George, einer der größeren Städte hier oben, verlassen zu können. Zwar schmerzt mein Hintern, aber dafür entkrampfen sich langsam die Innereien.

Zum Glück ist mein Farmer so nett und holt mich hier ab. Er heißt Cliff, begrüßt mich mit einem Lachen und sieht vergleichsweise ziemlich gepflegt aus. Zusammen mit seiner 80-jährigen Mutter bildet er das Empfangskomitee. Alles ist sehr herzlich. Juchhe, ich bin unter Menschen. Da nehm ich doch gern auf mich, dass wir jetzt noch weitere 2 Stunden mit dem Auto nach Westen zu fahren haben.

Baumstämme für die typischen Blockhäuser

Kommen im Dunkeln dort an. Cliff zeigt mir mein neues Zimmer und ich bin nun in Fraser Lake. Das ist immer noch in der gleichen kanadischen Provinz – British Columbia – aber trotzdem gut 1000 Kilometer von Vancouver entfernt, wo ich am morgen gestartet war. Für große Erste Eindrücke fehlt mir inzwischen die Kraft. Als ich hinter mir die Tür schließe, schaffe ich es gerade noch, den Schlafsack auszurollen und mich hinein zu kuscheln. Dann fallen mir die Augen zu – und zwar genauso schlagartig, wie sie 18 Stunden zuvor aufgesprungen waren.

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