Freitag, 5. Juli 2013

Unter Posern, LOHAS & Gras-Bauern

Anfang Juni
Was für ein Kulturschock. Seit Anfang Juni bin ich wieder in einer Stadt. Nelson liegt in den wunderschönen Kootenays, einem Ausläufer der Rocky Mountains. Ok, mit rund 10-Tausend Einwohnern und genau einer Geschäftsstraße ist sie nicht ganz ´ne Weltstadt, aber nach meinen Wochen im Busch kommt für mich hier regelrecht Metropolenflair auf.

Blick auf Nelson

Auf jeden Fall ist das süße Örtchen mächtig funky! Glaube, das trifft den Nagel auf den Kopf. Ähnlich gut passt vielleicht noch: fancy! Wie auch immer, was ich sagen möchte: meine neue Station hat einfach was Besonderes.

Genieße die unverkennbare Kiez-Atmosphäre. Hab manchmal sogar das Gefühl, mein geliebtes Babelsberg ist einfach in diese atemberaubende Mittelgebirgskulisse verpflanzt worden. Szenig genug ist es hier allemal.

Detail Straßenbild

Die Menschen, ihre Kleidung, das Straßenbild – alles strahlt eine links-alternative, weltoffene, kunstgeprägte Grundstimmung aus. Die Reklameschilder etwa sind zumeist handgepinselt. Insgesamt ein bizarrer, subkultureller Mix aus Punkern, Hippies und Skatern.

Also alles ein wenig abgeranzt, dafür aber ausgesprochen kreativ, friedlich und ziemlich öko. Das Einzige, was noch mehr vorherrscht: betonte Lässigkeit. Denn das Kootenay-Tal ist auch Hochburg des Funsports.

Boarder-Laden

Nelson ist im vergangenen Jahr zum besten Skigebiet in ganz Nordamerika gekürt worden. Filmemacher aus aller Welt wissen aber schon länger um die unglaubliche Schönheit dieser bewaldeten Berglandschaft. Das Snowboarden im metertiefen, unberührten Pulverschnee verspricht spektakuläre Aufnahmen. Nicht umsonst sind hier Video-Crews von Red Bull & Co Dauergast.

An einigen der halsbrecherischen Hängen sind quer durch den Wald Kameraseile installiert. Weiter oben, wo die Steilpisten eher felsig sind, werden die Bilder meist aus dem Helikopter eingefangen.

Entsprechend cool geben sich die meisten guys in town. Lifestyle wird groß geschrieben. Dazu gehört neben der obligatorischen Sonnenbrille, den Szene-Klamotten und bunten Tattoos auch ein single shot Cappuccino in der Hand - mit irgendeinem dieser unzähligen, exotischen organic-flavor, die ein Normalsterblicher zuvor noch nie gehört hat.

Café Oso Negro

Tja, und was machen all diese trendy people, jetzt wo kein Schnee liegt? Ganz einfach, sie heizen weiter die Hänge runter – jetzt mit dem Rad. Downhill heißt das Ganze und wird ähnlich bescheiden zelebriert. Die Red-Bull-Crew soll schließlich keine lange Weile bekommen;)

Jedes Kind scheint hier damit aufzuwachsen, dass es normal ist, sich wie ein lebensmüder Geisteskranker den Berg hinabzustürzen. Zumindest können hier die meisten 5-Jährigen schon jetzt mehr Tricks auf ihren bikes als ich wohl in meinem ganzen Leben. Seufz.

Biker-Trail

Selbst im cool sein, fällt es mir schwer mitzuhalten. Wandern zählt nur bedingt zu den Funsportarten. Genau das mach ich aber am häufigsten. Nicht nur, weil die Ausleihgebühr für ein einfaches Mountainbike mit 45 Euro am Tag unverschämt überteuert ist, sondern auch, um meinem Rückflug nach Europa, nicht mit dem Notarzt-Hubschrauber anzutreten.

Talumgebung

Die steilen Berghänge sind üppig bewachsen. Massenhaft Trampelpfade laden zu wahrlich wildem Umherstreifen ein. Überwältigend! Und kein Ende in Sicht. Die ganze Region ist ein einziges großes Spektakel. Wer sich auskennt kann tagelang unterwegs sein, ohne einer Menschenseele zu begegnen. Und selbst auf Tagestouren für weniger draufgängerische Touristen wie mich gibt´s immer wieder traumhafte Orte zu entdecken: kleine, niedliche, wilde Campingplätze und Strände. Denke, die Bilder sprechen für sich.

Ausflugs-Bilder Fathers-Day

Im krassen Gegensatz zur Stylomaten-Atmosphäre auf Nelsons Flaniermeile, stehen die Wohnhäuser, die sich an einem Südhang der umliegenden Berge empor ranken. In gleichmäßigen Planquadraten reiht sich fein säuberlich eine historische Holzvilla an die andere. Denkmalgeschützte Häuser aus dem 19. Jahrhundert. Sorgfältig restauriert und herausgeputzt – und die Gärten oft auch aufwendig und liebevoll bepflanzt. Ich persönlich finde, da sind einige Hingucker dabei.

Schnuckelhaus

Wunder mich nur, wie der viktorianische Stil mit den ganzen Hipstern zusammenpasst, die ich auf der Straße treffe. Keine Ahnung. Hab aber schon herausgefunden, dass es ein übergeordnetes, verbindendes Element gibt. Egal welches Alter, welches Geschlecht oder welche soziale Schicht, in Nelson und Umgebung spielt Cannabis eine wichtige Rolle.

Die Einen chillen damit ab, die Anderen machen damit richtig Kohle. Ob im Wohnzimmer, geheimen Gewächshäusern oder Verstecken im Wald, Hanf gedeiht hier prächtig. Die klimatischen Bedingungen passen glaube ich auch besonders gut.

Hab gehört, das Marihuana von hier soll Weltruf genießen. Konnte ich auf Anhieb nicht nachrecherchieren. Was ich aber rausgefunden habe: andere Einnahmequellen in der Stadt sind rar.

Die gut gehende Industrie ist von den alternativen Einwohnern im Prinzip vergrault worden. Silberabbau und Holzwirtschaft waren über Jahrzehnte groß, vertragen sich aber nicht mit den Überzeugungen der Ökos. Die bauen lieber Gras an. Ist zwar nich legal, aber egal. Ick sach nur Heilpflanze;)

Unter dem Strich scheinen die Nelseraner eine gepflegte Antihaltung zu mögen - Mainstream is Kacke und Kapitalismus sowieso. So hat sich die Gegend hier einen zweifelhaften Ruhm als Trutzburg erworben. Naja Dudes, lern ich halt mal ´ne andere Pott-Kultur kennen.

Donnerstag, 20. Juni 2013

Wie ich einen Bär schoss

Warum die Kanadier Schlösser in ihren Türen haben, bleibt mir ein Rätsel. Gut, dass Cliff mitten im Wald weder Haus noch Hof abschießt, leuchtet mir ein – Räuber bräuchten wohl eine Schatzkarte, um überhaupt hierherzufinden – aber auch in den halbwegs zivilisierten Örtchen begegnet mir ein ungewohntes Phänomen: Die Menschen hier scheinen es ziemlich spießig zu finden, ihren Besitz allzu sehr zu sichern.

Auf ohnehin kaum sichtbar abgesteckten Grundstücken stehen Fenster, Haustüren und Garagen gern mal sperrangelweit offen. Auch wenn niemand daheim ist. So erlebt bei einem „Stadt“besuch mit Cliff. Wollen bei einem seiner Buddies, neue Truckreifen aufziehen lassen. Als wir am frühen Nachmittag dort ankommen, irren wir auf der Suche nach ihm erst mal durch dessen Werkstatt- und Garagenkomplex. Nix zu sehen. Spazieren dann auch durch Garten, Haus und Keller.

Sehe dabei unter anderem Portemonnaie, Technik und wertvolle Werkzeuge frei rumliegen. Wie sich später herausstellt, ist unser Reifenkumpel spontan einer Kaffee-Einladung gefolgt und war eben 3 Stunden um die Ecke. Das nenn ich mal gesundes Grundvertrauen!

Warum auch nicht? So ein Haushalt ist ja wohl alt genug, da er kann schließlich auch mal für´n Moment allein auskommen, oder;) Bin jedenfalls über diese gängige Praxis im ersten Moment ein wenig gestolpert, hab sie inzwischen aber lieb gewonnen. Ist hier alles ein wenig lockerer. irgendwie ein bisschen Heile-Welt-Feeling.

Das schon beim zulaufen auf das Haus übliche Brüllen eines überschwänglich-herzlichen Willkommensgrußes kombiniert mit dem Namen des Hausbesitzers, statt zu klingeln, sowie die sich umgehend – noch immer von lauten Such- und Grüßformeln begleitete – Hausinspektion, will mir persönlich allerdings noch immer nicht so recht von der Hand gehen.

Hab mich auch schon gefragt, ob dieser Mentalitätsunterschied vielleicht eher zwischen Stadt und Land auszumachen ist, als zwischen Deutschland und Kanada. Aber dass auf dem Parkplatz vor dem Lebensmittelgeschäft Dutzende Autos mit heruntergelassen Scheiben stehen in denen teilweise noch die Zündschlüssel stecken, hab ich zu Hause auch im Dorf noch nicht gesehen.

Die Crew vom Spargelacker kann mich gern berichtigen;) – herzliche Grüße an dieser Stelle!

Zu den Menschen hier ließe sich im Allgemeinen noch so manches ausführen. Doch heute möchte ich Euch viel lieber kurz ein paar spezielle Kanadier vorstellen. Nämlich die Jungs und Mädels, die sich hier im Wald bisher besonders liebevoll um mich Fremdling gekümmert haben.

Einsiedler Cliff bei Waldarbeit

Von meinem Farmer Cliff hab ich ja schon einiges durchblicken lassen. Ein überaus freundlicher Einsiedler, der die längste Zeit seines Lebens erfolgreich mit Holz gehandelt hat, jetzt als Rentner dennoch bescheiden und zufrieden in seinem selbstgebauten Häuschen wohnt und der das easy-going erfunden zu haben scheint – mit all seinen Vor- und Nachteilen;)

Cliff zeigt mir den Fraser Lake

Leider kämpft er seit einigen Jahren immer wieder auch mit gesundheitlichen Problemen. Trotzdem will er sich davon nicht abhalten lassen, mir seine Welt ein wenig näher zu bringen. Neben den Arbeiten, die er mir zeigt oder erklärt, sitzen wir abends oft einfach am Lagerfeuer und quatschen über alles Mögliche. Über die Grenzen von Generationen und Kultur hinweg. Genieße diesen Austausch.

Cliff sitzt nachdenklich am abendlichen Feuer

In dem Zusammenhang fällt mir auf, wie gut sich mein Englisch bereits entwickelt hat. Hätte nie gedacht in einer Fremdsprache mal über Umweltschutz, Musikgeschichte oder Psychologie zu philosophieren. Gelingt mir aber ganz gut. Kann mich deutlich differenzierter ausdrücken als ich es mir zu wünschen gewagt hätte. Vermutlich zum Leidwesen der restlichen englischsprachigen Weltbevölkerung, die jetzt nicht mehr davor gefeit ist, ebenfalls von einem meiner azyklisch auftretenden Laberanfälle erwischt zu werden.

Nahaufnahme Glut

Cliff jedenfalls hat sich glücklicherweise noch nicht beschwert. Stattdessen hat er mich zu meinem Geburtstag reich beschenkt. Hatte es extra geheim gehalten, weil ich ihn in keiner Weise in die Bredouille bringen wollte. Doch als er es mitbekommen hat, war er schneller dabei mir – ebenfalls heimlich – einen brandneuen Leatherman zu besorgen, als ich gucken konnte. Das ganze am Abend spontan präsentiert mit einem Geburtstagskuchen und einer Karte. Hat mich gerührt.

Cliffs 80-jährige Mutter Helen

Mit von der Partie war seine Mutter Helen. Die rüstige 80-Jährige wohnt nur einige Hundert Meter entfernt in einem wunderschönen Blockhaus direkt am Lake. Ebenfalls selbstgebaut, zusammen mit ihrem leider kürzlich verstorbenen Mann, der finnische Wurzeln hatte. Helen ist eine unerschrockene Frau, die inzwischen mehr als ein halben Jahrhundert in dieser rohen Natur lebt. Vor den Wildtieren rundherum hat sie bis heute keine Angst, anders als vor dem Alleinsein.

Blockhaus mit Terrasse am See

Sie hat sich jetzt auf einen Platz im Seniorenheim von Fraser Lake beworben. Aber die Warteliste ist lang. Zum Essen kommt sie öfter bei uns vorbei. Versuche außerdem sie 2- bis 3-mal pro Woche zu besuchen. Mindestens aber, wenn ich mit dem Kanu auf den See raus paddle.

Helen gießt Wasser für Cowboy-Kaffee auf

Bei diesen Abstechern zur Bilderbuchblockhütte gibt’s dann immer Tee oder Cowboykaffee und wir spielen eine Runde Cribbage. Sie liebt dieses ur-englische Kartenspiel. Finde zwar, man braucht mindestens ein erweitertes Mathematikstudium, um überhaupt nur die Regeln zu kapieren, kann mich aber auch allein daran erfreuen, dass sie sich freut, zu spielen. Außerdem gibt es auch vertraut Schönes: es wird mit einem 52-er Pokerblatt gespielt. Grins!

Es gibt auch Varianten für 3 oder 4 Mitspieler. Das wird dann interessant, wenn Cliffs Freund Rob zu Besuch ist. Er ist passionierter Cribbage-Spieler und klinkt sich gern mit ein. Spätestens dann verliere ich in der Regel völlig den Überblick.

Schon beeindruckend, wie die beiden dann noch immer mit den Zahlenwerten, Kombinationen und Straßenmöglichkeiten jonglieren. Kleine Ausrede zum selbstberuhigen: Rob hat schottische Wurzel und das typische Pub-Spiel gewiss schon mit der Muttermilch aufgenommen.

Rob ist ein netter Kerl

Was den humorvollen Kerl aber am allermeisten auszeichnet, sind seine Künste in der Küche. Kein Wunder, er hat jahrelang als Sternekoch in Toronto gearbeitet. Was diesen begnadeten Meister der Essenszubereitung hierher getrieben hat, bleibt mir ehrlich gesagt schleierhaft. Irgendwas mit weg von der Großstadt und endlich meine Ruhe oder so hat er mir gesagt. Mir soll´s recht sein:)

Cliffs Kumpel Rob ist gelernter Koch

Wie auch immer, als enger Kumpel von Cliff ist er manchmal mehrere Tage am Stück hier draußen. Und es ist fantastisch, welche Kreationen er aus den einfachsten Zutaten zaubern kann. Selbst Sandwiches oder Omeletts scheinen bei ihm aus einem anderen Universum zu kommen. Mhhh, einfach nur lecker! Hoffe, kann mir wenigstens ein paar seiner Tricks merken. Fakt ist, er hat mein Interesse für die Küche zumindest geweckt.

Meine Gang am Francois Lake


meine Spielkameradin

Tja, und die Vierte im Bunde, die mit uns ständig hier abhängt, ist Billy. Eine zuckersüße, zu tiefst verschmuste und verspielte Border-Collie-Hündin. Da geht mir doch das Herz auf! Erinnert mich an unsere Lea, die ich sehr vermisse. Auf jeden Fall haben wir 2 und auf Anhieb gefunden. Sind im Grunde jeden Tag zusammen und nutzen kleine Pause immer wieder für ein kleines Spielchen. Am liebsten aber kuscheln wir einfach nur. Scheinen beide etwa ausgehungert zu sein;)

kuscheln mit Billy nach Tagwerk

Genieße es, wenn sie sich vor mir ausgelassen auf dem Rücken wälzt und es kaum erwarten kann gekrault zu werden. Ihre haselnussbraunen Augen strahlen und sie lässt mich nicht aus dem Blick. Was für ein Blick! Die Kleine ist so treu, hockt manchmal 2 oder 3 Stunden neben dem Garten oder wo auch immer ich am arbeiten bin und beobachtet was ich mache. Schade, dass ich sie auch wieder verlassen muss:(

Maus in Falle

Fuchs schleicht ums Haus

Wiesel mit Maus im Maul huscht unters Haus

Billy ist zugleich aber auch verlässlicher Wachhund. Ok, die Mäuse im Haus gehen ihr nicht auf den Leim, da müssen wir leider Mäusefallen einsetzen, oder auf die Wiesel und Füchse hoffe, die hier ums Haus streichen, aber wirkliche gefährliche Wildtiere wie den Cougar hält sie erfolgreich fern.

Der Berglöwe, auch unter dem Namen Puma oder bei Gendefekt mit schwarzem Fell als Panther bekannt, ist eine beeindruckend große Raubkatze, die über 5 Meter hoch in Bäume springen kann. Cougars sind hier weit verbreitet. Das Problem: sie bewegen sich so schnell, leise und eben auch hoch, dass Menschen sie in aller Regel gar nicht wahrnehmen.

Glücklicherweise greifen sie nur an, wenn sie richtig ausgehungert sind – etwa nach einem langen, harten Winter – oder wenn sie richtig alt sind und nur noch leichte Beute erlegen können. Ansonsten sind diese Jäger eher scheu. Und wenn Billy sie riecht, anfängt in ihre Richtung zu rennen und aufgeregt zu bellen ist das diesen zumeist gemütlichen Raubkatzen einfach zu stressig.

Über die Jahre sind hier im Lake-District auch nur wenige tatsächliche Cougarangriffe dokumentiert worden. Mir ist trotzdem irgendwie wohler, wenn Billy in der Nähe ist.

Damit habe ich langsam aber sicher von den Menschen zu den Tieren übergeleitet. Logisch, sind sie doch das Salz in der Suppe meines Wildnistrips. Kaum etwas kann mehr für ungezähmte Natur stehen als wilde Tiere. Und davon hab ich hier schon jede Menge gesehen.

2 Deer haben die Ruhe weg

Die Deer drängen sich dabei förmlich auf. Eine Hirschart, die nahezu überall unterwegs ist, wo ich mich hier bewege. Die weißen Hinterteile leuchten durch Büsche, sprungbereit in Straßengräben oder gleich ganz auf der Straße. Dabei geben sich diese Äser mitunter ziemlich stoisch. Das Exemplar auf dem Foto hab ich übrigens gleich am ersten Tag direkt vor unserem Küchenfenster knipsen können.

Deer vor Küchenfenster

Um einiges mehr Glück hatte ich da schon, auch ein paar Weißkopfseeadler vor die Linse zu bekommen. Und zwar ganz ohne Hilfe eines Teleobjektives:) Beobachte die majestätischen Tiere manchmal von Helens traumhafter Terrasse aus. Beeindruckend aus welcher Höhe sie das Wasser quasi scannen. Würde schätzen bestimmt 100 Meter über dem See. Gleiten manchmal minutenlang vor sich hin und ziehen Kreise. Bevor sie auf einmal senkrecht nach unten stechen. Wie ein Pfeil tauchen sie ins Wassert und greifen sich einen Fisch. Gigantisches Schauspiel.

Adler kreist am blauen Himmel

Vor allem, wenn ich mir vor Augen halte, dass dieser mit messerscharfen Krallen ausgestattete Greifvogel eine Flügelspannbreite von bis zu 2,50 Metern hat - deutlich mehr als die ausgebreiteten Arme eines ausgewachsenen 2-Meter-Mannes. Wahnsinn! Bin gerade ziemlich froh, kein Fisch zu sein.

Weißkopfseeadler trohnt auf Gehölz am Seeufer

Obwohl es dennoch zu unliebsamen Begegnungen mit dem Wappentier der USA kommen kann. Dieses Foto etwa hab ich bei einem unverhofften Angelausflug mit einem „Nachbar“ gemacht. Er heißt Robert, ist 35, wohnt nur ein paar Kilometer von Cliff entfernt und geht mit seinem 8-jährigen Sohn regelmäßig angeln. Die beiden Seelen von Mensch haben erzählt: erst eine Woche zuvor, wollten sie gerade ´nen Fisch ins Boot ziehen, da klaut ihnen ein Weißkopfseeadler den Fang direkt vom Haken.
Rob und sein Sohn haben einen Fisch am Haken

Mist, das wär doch mal ein echtes Actionfoto. Kann die beiden aber nicht überreden, eine unserer gefangenen Forellen als Köder für den Adler in die Luft zu schwingen. Als kleinen Trost bietet mir Robert an, ihn auf einer Moose-Jagd begleiten zu dürfen. Freue mich verhalten.

der 8-jährige präsentiert stolz die gefangene Forelle

Erfahre dann aber, dass er diese Elchart mit dem Bogen erlegt. Und dass da ne ganze Menge Philosophie dahinter steckt, von wegen Einklang mit der Natur, Respekt vor den Tieren und so weiter. Besonders wichtig ist ihm, das fleischspendende Lebewesen direkt mit dem ersten Schuss zu töten. Ihm sollen unnötige Qualen erspart bleiben. Dazu muss er sich besonders dicht anschleichen und eine bestimmte Stelle treffen. Nun bin interessiert. Und umso enttäuschter als ich mitbekomme: wenn die nächste Jagdsaison startet, werd ich wohl schon im Flugzeug nach Hause sitzen.

Noch mal kurz zurück zu den beeindruckenden Adlern. Ein Exemplar konnte ich noch mit der Kamera festhalten als es dabei war, sich die Reste eines gerissenen Deer zu krallen. Wilder Anblick!

Weißkopfseeadler mit großer Beute

Trotz solcher imposanten Begegnungen mit Bewohnern der weitgehend noch unverdorbenen Urnatur, schwirrt mir immer wieder ein Gedanke durch den Kopf: Fahre nicht nach Hause ohne einen Bären zu fotografieren. Sonst glaubt ja keiner, dass ich wirklich in Kanada bin.

Kann ja nicht so schwer sein, denk ich mir. Schließlich ist Meister Petz ständig um uns herum. Davon zeugen nicht nur Billys vorbildliche Bellattacken – übrigens zu allen möglichen Tageszeiten – oder Kotspuren und Tatzenabdrücke, sondern eben auch die leibhaftige Präsenz der Schwarzbären. Nur: bis ich den Apparat im Anschlag habe und die Schärfe gezogen habe sind die im Grunde scheuen Riesen meist über alle Berge.

Zumal in diesen Situationen die Sicherheit vorgeht. Gerade im Frühling sind die Bären-Mütter oft noch mit ihrem Nachwuchs unterwegs. Und wenn sie die Kleinen auch nur ansatzweise bedroht sieht, können die bis zu 230 kg schweren Weibchen schnell mal ungemütlich werden.

Höre hier auch zum ersten Mal davon, wie schnell die eher träge wirkenden Räuber werden können. Bei Kampf oder Flucht sollen für kurze Strecken über 60 km/h drin sein. Staun! Dazu kommt: Die Schwarzbären gelten zwar im Grunde weniger gefährlich als der größere, kräftigere und oft aggressivere Grizzly, dafür legen sie im Ernstfall darauf an, ihr Gegenüber zu töten. Dagegen verlieren Grizzlies wohl schnell das Interesse, wenn ich mich auf den Boden lege und tot stelle. Ausprobieren will ich´s allerdings nicht unbedingt. Und die Geschichte, wie ich aus Notwehr einen Schwarzbären mit meiner Softshell-Fototasche verkloppt habe, weil er partout seine panische Angst in ein überflüssiges Tötungsdelikte kanalisieren wollte, erzähl ich lieber beim nächsten Mal.

Und auf mein angelesenes Wissen wollte ich mich auch nicht unbedingt verlassen müssen. Demnach soll ich bei einer ungeahnten Begegnung mit einem Bären, de sich eventuell gestört fühlt einfach meine Arme hoch über den Kopf strecken und damit wedeln während. Bären sehen vergleichsweise schlecht und lassen sich angeblich schon mal davon beeindrucken, wenn der Störenfried größer ist als sie.

Wie auch immer, fühle mich genug gewarnt, um auf der Jagd nach meinem Bärenfoto kein unnötiges Risiko einzugehen. Die meisten tödlichen Unfälle der jüngeren Vergangenheit gehen ohnehin eher auf eine ziemlich große Dämlichkeit von Menschen zurück. So sollen Eltern ihre Kinder in einem Nationalpark aufgefordert haben, den süßen Bären für das Familienalbums-Foto doch ruhig zu streicheln. Auf so was komm ich nicht im Traum.

Gebe zu, die Teddies sehen wirklich putzig aus. Hab aber auch gesehen, mit welcher Leichtigkeit sie die Tür aus einem Holzschuppen entfernen können. Stehe also noch immer vor einem Dilemma: bin scharf auf das Foto, aber weiß nicht, wie ich einem Bären ohne Teleobjektiv schnell genug nahe komme, ohne mich dafür in Gefahr zu begeben.

In meiner Verzweiflung lichte ich schon das Foto ab, das mit einem Magnet an Cliffs Kühlschranktür geheftet ist – er hat vergangenen Herbst ein riesiges Männchen in der Nähe von Helens Platz aufgenommen. So hab ich wenigstens was in der Hand. Gleich ein besseres Gefühl. Eigentlich doch nicht.

Bis Ende Mai lebe ich mit diesem Dorn im Auge. Dann tappst das Glück direkt vor unser Haus. Rund 30 Meter entfernt sucht ein Schwarzbär seelenruhig nach weiteren Beerensträuchern. Billy ist drin und kann ihn nicht verscheuchen, ich bin im Sicheren und ich hab genug Zeit, die Kamera zu holen, das Bild einzurichten und durch die Fensterscheibe auf einen Moment zu warten, in dem der Bär den Kopf hebt. Schuss. Juhu, ich hab mein eigenes Bärenfoto aus Kanada.

Schwarzbär an Cliffs Haus

Sonntag, 26. Mai 2013

Der Gärtner und das Biest - Oder: Mein Techtelmechtel mit Gott

25. April bis 25. Mai – KW 17 bis KW 21

Was passiert, wenn ein Bürohengst einfach mal Farmer spielt und seine Computertastatur gegen Schaufel, Axt und Mistgabel tauscht? Richtig, er macht sich seine Stadthändchen kaputt. Hätte es also wissen können. Gucke dennoch ein wenig bedröppelt auf meine geschwollenen Pfoten.

Trotz der gewissenhaft gewählten Cowboy-Arbeits-Handschuhe aus bestem Rindleder sind die Aloe-Vera-Lotion-verwöhnten Enden meiner oberen Extremitäten übersät mit Blutblasen und kleinen Schnittwunden - die steifen Fingergelenke nur am Rande erwähnt.

Genau betrachtet, gibt es – so ziemlich auf den Tag genau einen Monat nach meiner Ankunft in diesem faulenzfeindlichen Ort – kaum eine Stelle an meinem Körper, die nicht irgendwie in Mitleidenschaft gezogen ist. Abgeschürfte Haut, schmerzende Sehnen, verspannter Rücken. Muskelkater sowieso! Und zwar in allen erdenklichen Partien. Eben jenen, die ich eher selten brauche, wenn ich 8 Stunden am Schreibtisch hocke, Texte tippe und einzig aufstehe, um mich in der Mittagspause, die Marathondistanz von 200 Metern, in die Kantine zu schleppen.

Doch der stichhaltigste Beweis städtischer Verweichlichung: Ich verzärtelter Akademiker schaffe es auch noch, mich hier im Blog über diese Wehwehchen gründlich auszujammernd. Na Bravo! Obwohl, Männer können sich generell ganz gut selbstbemitleiden. Sagen zumindest fiese Frauenzeitschriften. Hoffentlich fragt mich keiner, woher ich das weiß.

Erwecke jetzt vermutlich den Eindruck einer Heulsuse, die gelegentlich die Brigitte studiert. Mhh, da ist der Ruf doch schon so gut wie ruiniert. Spräche also nix dagegen, noch ´n bisschen weiter zu flennen. Ringe mich aber dazu durch, stattdessen alles erdenkliche zu tun, mein Image aufzupolieren (liebe Grüße in die Pokerrunde;)).

Ein kleiner heroischer Anstrich hat schließlich noch keiner Männergeschichte geschadet. Okay, allein mit malträtierte Muckis und blutende Bläschen lässt es sich nicht wirklich, wie soll ich sagen, auf den Spuren von Daniel Boone & Co wandeln. Aber ich könnte den Bericht über meinen Arbeitsalltag auf der Farm zumindest mit dem bisher spektakulärsten Teil beginnen. Here we go!

Um das Feuerholz für den langen Winter können sich die Einsiedler nicht früh genug kümmern. So fällt es in meinen Aufgabenbereich, wann immer gerade nix anderes ansteht, den garagengroßen Vorratsverschlag weiter aufzufüllen. Muss dafür erst mal die Baumstämme zerteilen. Und da kommt die KETTENSÄGE ins Spiel. Brust schwell.

Die ist nämlich nicht nur ohrenbetäubend laut, sondern auch saugefährlich. Mein Farmer berichtet, dass sich selbst erfahrene Lumberjacks immer wieder damit verletzen. Die benzinbetriebenen Säge entwickelt große Kräfte, verkantet sie, kann das Sägeblatt mit den drumherum rasenden Reißzähnen schnell mal unkontrolliert wegschnippen. Zumeist nach oben, in Richtung Kopf des darüber gebeugten Holzfällers.

Cliff nennt daher seine robuste Husqvarna-Säge respektvoll Das Biest. Furchteinflößender Name. Soll ihn stets an all die sorglosen oder durch Routine leichtsinnig gewordenen Freunde und Bekannte erinnern, die sich unglücklicherweise mit so einem Gerät schon verunstaltet haben. In einem Fall ist das halbe Gesicht samt Auge draufgegangen. Mich schüttelt´s.

Kettensaege und Schutzmontur

Ansonsten fällt die Einweisung recht knapp aus. Bin aber gewarnt und führe das Biest vorsichtshalber nur aus, wenn ich in kompletter Schutzmontur stecke. Dazu gehört auch eine Schutzmaske. Leider sieht die ziemlich albern aus. Lässt mich eher wie ein Imker erscheinen. Aber was tut man nicht alles, um beim Fernsehen arbeiten zu dürfen.

Dafür fallen die späteren Actionposen umso waghalsiger aus. Der Selbstauslöser macht´s möglich. Muss ja keinem verraten, dass die saugefährliche-superscharfe KETTENSÄGE dabei ausgeschaltet ist. Bin schon ein Draufgänger.

Actionpose

Das letztliche Holzhacken ist mit Abstand meine liebste Arbeit. Genieße die Axt. Mit ihr in der Hand fühle ich mich besonders männlich. Klingt vielleicht peinlich, ist aber so. Spalte manchmal stundenlang Klötze. Ein Workout der besonderen Art. Selbst wenn Schultern und Arme längst erlahmt sind, kann ich das formschöne Werkzeug nur schwer beiseite legen.

Holzhacken

Zum Aufhören zwingen mich meist erst die Schmerzen in den Hand- und Fingergelenken. Beim wuchtigen Aufprall der Axt werden Vibrationen ziemlich ungefiltert auf den Körper übertragen. Meine Knochen scheinen dafür irgendwann zu weich, zu sein.

Überraschend finde ich allerdings, wie viel Knowhow selbst in solche einfachen Arbeiten stecken kann. Hab mich anfänglich bei manchen Klötzen mit 50 Schlägen und mehr abgemüht. Die Tipps von Cliff ermöglichen mir inzwischen, einen Klotz auch in rund 10 Schlägen zu vierteln.

Relaxen vor Holzhaufen

Hilfreich ist etwa, das Holz zu lesen - also eventuell bereits vorhandene Risse zu nutzen -, unbedingt außen anzufangen und sich über die Mitte zur anderen Seite vorzuarbeiten sowie stets die gleiche Kerben-Tangente zu treffen. Mein Rekord liegt übrigens aktuell bei 6 Schlägen. Wenn das mal nicht zum Helden taugt.

Schade eigentlich, dass meine sonstigen Arbeiten dagegen ein ganz klitzekleines bisschen blass daher kommen. Nüchtern betrachtet, ist mein Alltag nämlich recht bäuerlich. Welch Wunder, bin ich doch ein WWOOFer (Willing Worker On Organic Farms) – also ein freiwilliger Arbeiter auf einer Biofarm.

Pflanzen in Gewaechshaus

Konkret heißt das: verdiene hier kein Geld, erhalte dafür aber Kost und Logis. Fairer Deal. Vor allem, weil das Essen richtig guter Stoff ist. Halt echt Bio. Neben selbstgepflückten Wildbeeren und Waldpilzen: frisch gefangener Fisch und natürlich selbstangebautes Gemüse. Gesund und lecker. Dreamteam! Mhhh!

Schild Blumenkohl

Aber, wie schon ein altes Sprichwort weiß: Wer das eine mag, muss das Andere mögen. Bevor wir schlemmen können, muss ich also pflücken, angeln, anbauen. Letzteres hat mich in den vergangen 3 Wochen die meiste Zeit gekostet. Oh Mann, so ein Gemüsegarten hat es in sich. Hätte nie gedacht, wie viel Aufwand da so drin stecken kann. Verhätscheltes Stadtbalg!

Gartentotale

Das über den Winter verwilderte Areal, inklusive kleinem Gewächshaus, vom meterhohen Gras zu befreien, ist da noch die leichteste Aufgabe. Im Feintuning dann aber alles Unkraut aus dem Boden zu pulen... uff! Hat mich 3 Tage Dauerbücken gekostet. Rückenschmerzen gratis.

Unkraut jäten

Den härtesten Fight übrigens liefern mir die Brennnesseln, die zielstrebig unter allen Beetumrandungen hervor wuchern. Unglaublich, wie ausufernd deren Wurzelwerk sich durch den Boden zieht. Robbe teilweise auf allen Vieren durch den Garten, um die blöden Enden dieser schier unendlich verzweigten Knäule mit meinen Händen frei zu schaufeln.

Sehe dabei bestimmt wie ein Nasenbär auf Nahrungssuche aus. Allerdings wie ein zunehmend aggressives Exemplar. Bloß gut, dass zu meinen wenigen Stärken die Hartnäckigkeit gehört. So meister ich irgendwann diese supermegamonströse Mammuthürde.

Frage mich kurz, ob es in der Liga der Superhelden schon einen Gardener gibt. Ein Adonis mit grüner Maske und Seidencape sowie magischem Wasserschlauch, auf dessen hautengem Naturfaserkostüm in Brusthöhe ein großes gelbes G prangt, das naturgewaltig wie ein unbändiger Löwenzahn aus der Erdoberfläche hervorbricht.

Mein inneres Auge ruft sich spontan selbst zur Räson! Ehrlichkeit währt am längsten, weiß ich von meiner Oma. Gestehe mir also trotz der Monsterbrennnesseln ein, meinen Status treffender mit GIA einzustufen – Gärtner in Ausbildung. Aber die Richtung ist klar, hoffe ich.

Mein erster Baum

Jedenfalls gleicht das anschließende Umgraben und Düngen einer Wellnesskur. Die ich noch mehr geschätzt hätte, wäre mir bewusst gewesen, dass mein Farmer für die nun dringend erforderliche Bewässerung die Leitung erst noch legen muss.

Zu den zentralen Eigenschaften dieses 60-jährigen Mannes scheint es zu gehören a) 1000 Sachen anzufangen und b) vor lauter offenen Projekten, so verzweifelt zu sein, dass er keinen Nerv hat, auch nur eine dieser Sache zu Ende zu bringen.

Hebe Bewässerungsgraben aus

Das macht mich verrückt. Vielleicht auch deshalb, weil mich das im Kleinen an mich selbst erinnert. Eine Unart, die ich an mir nicht leiden kann. Wenn ich nur an einen der unzähligen Versuche denke, den Keller auszumisten – läuft nämlich meistens nach dem gleichen, knapp am Ziel vorbeischrammenden Muster ab: Breite ganzen Kram – der locker reichen würde, um allein einen Antiquitätenmarkt aus dem Boden zu stampfen – aus und fange an. Das meint, ich fange an, jedes Teil einzeln in die Hand zu nehmen. Muss ja erst mal sortiert werden. Logisch, oder.

Suche dabei unterschwellig nach plausiblen Gründen, warum dieses und jenes auf keinen Fall einfach so wegfliegen darf. Lieber erst mal noch behalten. Vorsichtshalber. Nicht das ich das Zeug auf einmal doch ganz dringend wichtig brauche. Bin in dieser Disziplin mitunter ziemlich kreativ. Selbst bei Gegenständen, die ich seit einem gefühlten Jahrzehnt nicht mehr angerührt habe, oder vielleicht nicht einmal mehr wusste, sie überhaupt zu besitzen. Waschmaschinentrommelsicherungshalter, Holztennisschläger, Videorecorder. Aber könnte die Sachen ja schon morgen ganz doll dringend brauchen.

Leite dann oft geschickt in die zweite Phase über: bestimmten Kram auszuprobieren. Gegebenenfalls vorher noch zusammenbauen, in jedem Fall aber dann ordentlich Quatsch damit machen. Das bringt mächtig Spaß. Nur voran komm ich eher selten. Wenn kurz vor dem Abendessen der ganze Plunder über den Boden, die Werkbank, das Treppenhaus und Teile des Gemeinschaftsgartens noch wüster als je zuvor verteilt ist, überkommt mich die Wut. So eine Sisyphus-Aufgabe. Das ist ja gar nicht zu schaffen. Mann, mann, mann! Werf dann panisch den Krempel so schnell es geht zurück in den Keller. Nur um erst mal wieder ein bisschen Ordnung zu haben...
Wie auch immer, im Gegensatz zu manchen Zuständen hier auf der Farm, bin ich ein Musterknabe in Sachen Ordnung.

Weiß nun jedenfalls, warum Pipelineteile vor dem Zentralwasserhahn liegen. Nun gut, wozu bin ich jung und kräftig - wie lang kann´s schon dauern, die 40 Meter bis zu den Beetanlagen auf- und zuzubuddeln?

Buddel am Abend noch immer

Geschlagene 3 Tage später weiß ich es genau. Dazu die Gewissheit: Steine und Wurzeln sind die natürlichen Feinde der Schaufel. Was soll´s, Zähne zusammenbeißen! Und fürs Foto: Lächchchcheln:)

So langsam schimmert mir: Auch das einfache Leben kann mitunter ganz schön kompliziert sein!

Vollgematschte Arbeitsschuhe

Das Verblüffende: Diese Plackerei tut mir gut. Zugegeben, muss mich an den ersten Tagen schon überwinden, mich auf das ganze Setting einzulassen – diese vielen Provisorien, der Dreck, Mäuse in den Wohnräumen – erinnere Momente, in denen ich mich einfach nur nach Hause gewünscht habe, ins saubere Bett, zu meiner Süßen.

Aber ähnlich wie ich es aus einigen Ausdauersportarten kenne, kommt nach kleinen Startschwierigkeiten recht bald der Punkt, an dem ich realisiere: Hey, you´re on the road! Weiß dann: Bin auf mich selbst zurückgeworfen, es gibt kein zurück! Der Rest ist automatisiert. Schalt den Kopf aus und lass Dich auf Gegebenheiten ein! Egal wie widrig sie sind. Sei im Moment! Genieße ihn! Balsam für meine Seele.

Mit zunehmender Dauer steigt die Belastung, oft beginnen Leiden. Doch das hilft mir, mich besser zu spüren. Dazu der Wind auf den Wangen, die Schweißperlen auf der Stirn, die später unaufhaltsam über das ganze Gesicht rennen, manchmal in den Augen brennen und auf den Lippen einen salzigen Geschmack hinterlassen, während es im Mund leicht nach Eisen schmeckt, die sich weitaufblähenden Lungenflügel, das bummernde Herz... – rhythmisch treiben Muskeln die Maschine Mensch weiter voran, weiter, immer weiter. Nichts kann sie stoppen. Wie eine Dampflok: Schuk, schuk, schuk... – Schritt für Schritt, Tritt für Tritt, Zug für Zug. Fest im Blick die Etappe, das Ziel, das große Ganze.

Während mein Körper vor such hin rotiert, wird der Geist klarer und klarer. Die gleichmäßige Bewegung versetzt mich in Trance. Die surrende Kette, die aufsetzende Sohle oder das spritzende Wassers – es tritt langsam in den Hintergrund. Nehme selbst das eigene Schnaufen nur noch gedämpft wahr, bald gar nicht mehr. Eine unglaubliche Ruhe setzt ein. So stell ich´s mir im Auge eines Wirbelsturms vor. Um einen herum tobt die Urgewalt, doch was ich vernehme ist nichts als völlige Ruhe.

Bin gelassen. Die Gedanken schweifen. Wie im luftleeren Raum treiben sie, scheinbar in Zeitlupe und ohne willkürliche Richtung, einfach so umher. Bis sie sich unwillkürlich irgendwo einhaken. Aus dem tiefsten Inneren erheben sich Gedanken – Themen, die mir auf der Seele liegen.

Kann meinen inneren Dialogen lauschen. Auf einmal ist alles so klar wie ein Bergsee. Mit Gleichmut im besten Sinne, begegne ich den Dingen – egal wie tief ich in den Abgrund gucken muss, es mich schmerzt oder ich die Konsequenzen fürchte. In diesen Momenten bin ich eins mit Gott.

Körperliches auspowern hat für mich was Meditatives, was Inspirierendes. Es erfüllt meine Sehnsucht, mich mit mir auseinanderzusetzen. Wie ich das hier so aufschreibe, kapiere ich auch, was mich, seit dem ich denken kann, immer wieder antreibt meine Grenzen ausloten, warum ich Marathons renne, im Urlaub freiwillig Alpenpässe erklimme, mir beim Kickboxen die Nase blutig schlagen lasse, das Billard-Queue selbst nach einem mehrstündigen Turniertag nur ungern aus der Hand lege oder notorisch jedem erdenklichen Ball hinterher hechte: Scheine mächtig scharf auf Gott zu sein;)

Obwohl ich eigentlich mit Religion wenig am Hut habe. Echt! Aber mein Arbeitseinsatz hier auf der Farm, der in der Regel nach dem Frühstück um 8 Uhr beginnt und endet, wenn die Sonne hinter den Bergen verschwindet – und der mir sporadisch erscheint wie abzuleistende Sozialstunden – hat für mich eine ähnlich spirituelle Ebene.

Vermute gar Parallelen zum Pilgern. Vor mir liegt ein langer, quälender Weg. Und weil der bekanntlich das Ziel ist (zahl die 5 Euro ins Phrasenschwein an dieser Stelle ohne Diskussion!) liegen meine Selbstanweisungen auf der Hand: Konzentriere Dich möglichst immer genau auf den nächsten Schritt, übe Dich in Demut und freue Dich über jede gemeisterte Aufgabe.

Wässere Pflanzen im Gewächshaus

Davon gibt es hier auf dem weitläufigen Hof übrigens mehr als genug. Die Hunderttausend angefangenen Projekte sind dem Farmer längst über den Kopf gewachsen. Der Berg angehäufter Arbeit, hat den armen Kerl vermutlich in depressive Stimmungsschwankungen getrieben. In gewisser Weise nachvollziehbar sind seine Perspektiven, sich da selbst rauszuziehen, nach einem schweren Autounfall vor einigen Jahren, stark geschwunden. Rücken und Nacken waren gebrochen, Cliff hat nur knapp überlebt. Für das, was er auf der Farm noch alles bauen möchte, dürften ihm schlichtweg Kraft und Zeit fehlen.

In Regenklamotte mit Farmer Cliff

Umso mehr Freude macht es mir, Cliff auf seiner „Baustelle“ vorübergehend eine Stütze zu sein, ihm vielleicht sogar eine kleine Anschubhilfe leisten zu können. Außerdem gibt mir das hier neben meiner übergeordneten, etwas abstrakten Suche nach mir Selbst auch einen konkreten, realen Sinn.

Es geht auch ordentlich vorwärts. Lustig das halb verwundert, halb erfreute Gesicht des liebenswert-schrulligen Farmers zu sehen, der kaum glauben kann, wie schnell manche Sache klappen können, wenn ein junger, eifriger, und entschlossener Mann einfach mal loslegt.

Repariere Holzterrasse

Bin generell die Haushaltsputze. Hab darüber hinaus aber schon Bäume gepflanzt, die der Feuerstelle in ein paar Jahren besseren Windschutz bieten werden, die von Schneelawine beschädigte Holzterrasse gerichtet, den Schornstein gesäubert, die Spüle repariert, Wassertanks regelmäßig nachgefüllt, Gras gemäht, Werkstatt und Lagerhallen gründlich aufgeräumt, Bretter gestrichen... Das alles natürlich auch bei Fritz-Walter-Wetter.

Gucke aus Wassertruck

Tja, und den Gärtner und Holzfäller in einer Person gebe ich ununterbrochen. Pflanzen, wässern, ernten und Holz hacken stehen quasi täglich auf dem Programm. Alles Weitere ergibt sich aus der Situation. Dabei hat sich mein größtes Ärgernis inzwischen Glücksgriff herausgestellt: War anfänglich vergrätzt, wenn Cliff einen Tag, an dem ihm Kraft, Motivation oder gleich beides fehlte, erst mal mit ´ner gepflegten Runde Fernsehen begonnen hat - ganz ungeniert – bevor er sich für einen seiner regelmäßigen Power-Naps noch mal in sein Bett zurückzieht. Inzwischen genieße ich es regelrecht, selbständig zu arbeiten.

Pflanze Bäume zum späteren Windschutz

Denn was eigentlich hinter solchem Groll steckt, ist weder die ausbleibende tatkräftige Unterstützung noch die fehlende Gesellschaft. Mir missfällt, keine Anweisungen zu haben. Der Grund: Muss Verantwortung übernehmen. Genau vor der will ich aber offen gesagt vorübergehend flüchten. Möchte mal für nix und niemanden verantwortlich sein. Außer eben für mich. Gewiss, das ist gesellschaftlich geächtet. Und es ist ein besonderer Luxus, sicher. Trotzdem, stehe dazu, möchte mal nur mit mir sein, einfach leben und Natur um mich haben. Allerdings brauch ich einen Häuptling, um Indianer zu sein. Dachte ich!

Das ganze Gegenteil ist der Fall: In dem Moment, wo ich eben nicht gesagt bekomme, was, wann, wo, wie am besten zu tun ist, muss ich für mich selber Entscheidungen treffen. Auch wenn es Aufgaben sind, die ich noch nie vorher gemacht habe oder nur wenig Erfahrung mitbringe. Und siehe da, die Ergebnisse sind durch die Bank weg gut, obwohl ich manches Mal ordentlich Lehrgeld zahle, Umwege gehen muss oder Dinge in den Sand setze. Trage die Konsequenzen – mit Freude!

Was so einfach klingt, fällt mir leider schwer. Warum? Weil ich immer alles perfekt machen, den Anderen zufrieden stellen, am besten noch dessen Erwartungen übertreffen möchte. Bekomme es etwa fertig, eine im Grunde abgeschlossene Sache (egal ob Fahrradreparatur, Fensterputz oder Filmproduktion) noch einmal genauso lange zu überarbeiten. Ein unverhältnismäßiger Feinschliff. Für den ich unnötig Kraft aufwende. Warum? Weil ich anscheinend auf Lob angewiesen bin. Warum? Weil ich mich sonst vielleicht schlecht selbst wert schätzen kann. Warum?...

...Warum auch immer, möchte solch undifferenzierten Mechanismen durchbrechen, möchte (mir zum Teil selbst auferlegte) Zwänge und Erwartungen an mich abstreifen, möchte mich meinen Ängsten stellen und sie hinter mir lassen. Kein Verdrängen mehr, kein Wegrennen. Das gelingt mir hier gerade. Wie gesagt, anfänglich witziger Weise Widerwillen.

Now, I´m on the road! Hab den Hof längst zu meinem eigenen Projekt gemacht. Und so lerne ich nicht nur viele praktische Dinge, sondern auch Neues über mich. Befürchte, erst jetzt richtig erwachsen zu werden. Habe Fehler wie jeder andere Mensch. Und die muss ich nicht krampfhaft verstecken. Ecken und Kanten sind okay. Everybody´s Darling dagegen ist ein vermessenes Ziel.

Finde es plötzlich gar nicht mehr so erstrebenswert, als Held dazustehen. Das Leben zu meistern, scheint mir Herausforderung genug. Einfach ein guter Mann zu sein! Korrigiere mich also auf MIA – Mann in Ausbildung.

Bin ein wenig stolz auf das, was ich mit meinen eigenen Händen und ´ner Schippe Selbstvertrauen zustande bringe. Hab mal gehört: Man findet Dinge am ehesten, wenn man nicht sucht. Stimme zu. In meinem Fall ein paar Erkenntnisse. Schöpfe Kraft.

Ist zwar manchmal ein schmerzlicher Prozess – auch völlig unvermittelte Tränen fließen – empfinde ihn aber reinigend. Am Ende wartet eine genauere Vorstellung davon, wer ich bin und wie meine Zukunft aussehen soll.

Okay, wer jetzt noch liest, ist kurz davor meinen sentimentalen Anflug überstanden zu haben. Respekt! Eher an mich selbst gerichtet, möchte ich abschließend zusammenfassen: Durch das gezwungenermaßen souveräne Arbeiten (wie paradox klingt das denn bitteschön) verbringe ich hier oft Zeit nur mit mir, meinen Gedanken und körperlicher Anstrengung – Momente, in denen ich tiefes Glück und Freiheit fühle.

Setze Kartoffeln

Das Gärtnern erdet mich buchstäblich. Herrlich, diese feuchte Kühle auf den Handflächen beim Durchwühlen der nährstoffreichen Beete. Behaglich, der leicht süßliche Harzgeruch frisch gesetzter Fichten. Ergreifend, das Geräusch berstender Holzscheite.

Gesplitteter Holzklotz

Mir wird mehr oder weniger sinnlich vorgeführt, wie meine Innen- und Außenwelt einander spiegeln. So hab ich eine andere Perspektive auf meine Situation gewonnen. Was ich noch vor wenigen Wochen als unangeschlossen empfunden habe, sehe ich heute eher als unangekettet – also unchained. Howgh, ich habe gesprochen!

Unter dem Strich lernen Cliff und ich voneinander. Er bemüht sich Pläne zu machen, Aufgaben zu priorisieren, Listen zu schreiben, sich von Sachen zu trennen und Arbeiten konzentriert zu Ende zu bringen. Ich lerne Spuren lesen, Wetterumschwünge einschätzen, gesünder Kochen, auch mal fünfe gerade sein zu lassen und trotz allem auch etliche handwerkliche Kniffe.

Axt nah

Einzig mein zarter Stadtkörper findet das wilde Werkeln ein wenig zu ambitioniert. Blicke noch immer verlegen auf meine geschundenen Hände. Doch die letzten 2 Stunden dürften sie sich ganz gut erholt haben – schließlich fühlen sich die Finger eines Bürohengstes auf der Computertastatur fast wie zu Hause.

Dienstag, 7. Mai 2013

Mitten im Nirgendwo

Freitag, 26. April
Der erste Tag auf der Farm. Die tiefstehende Sonne blinzelt vorsichtig durch´s Fenster, als ich aufwache. Bin gespannt auf Haus und Umgebung. Zeit für ´n kleinen Rundgang. Yeah, endlich in der Natur!

Kann das bereits von der Kochinsel aus sehen. Der Grund: die rustikale Wohnküche, die in ihrer großzügigen Gestaltung einem Loft gleicht, gibt durch voluminöse Glasfronten zu allen Seiten den Blick frei. Abgesehen von Feuerplatz, Werkstattgebäude, Beet, Gewächshäuschen sowie den Garagen und einigen kleinen Vorratsschuppen sind wir komplett von Wald umgeben. Bäume, soweit das Auge reicht.

Berggipfel und Baumwipfel

Einzige Ausnahme: die gigantische Aussicht zur Stirnseite. Hier eröffnet sich ein Panorama, wie aus dem Bilderbuch. Vom Hügel runter blicke ich über den saphirblauen Francois Lake, hinter dem sich majestätisch eine Bergkette erhebt – über und über besät mit den Wipfeln sattgrüner Nadelbäume. Mir schießen die Tränen in die Augen. Kann mich nicht dagegen wehren. Mein Herz hüpft.

Blick von Terrasse auf Francois Lake

Hier verbringe ich nun also nicht nur ein verlängertes Wochenende oder einen 2-wöchigen Urlaub – nein, hier lebe ich jetzt. Zumindest für einige Monate. Kann mein Glück kaum fassen. Hab mich so lange danach gesehnt, mal abgeschieden zu sein. Doch was das konkret heißt, hab ich mir ehrlich gesagt vorher nie so recht durchdacht. Noch im Laufe desselben Tages soll mir klar werden: befinde mich tatsächlich mitten im Nirgendwo.

Felsiger Hügel mit See im Hintergrund

Nun ist es so, dass ich mich für gewöhnlich bereits in der Wildnis fühle, wenn ich keinen Cappuccino bekomme (und das ist seit meiner Abreise aus Vancouver definitiv so; im besten Fall bringt mir eine vorsichtige Anfrage einen irritierten Blick ein, der mit Schulter zucken kombiniert ist und ungläubigen Worten wie Was soll das sein?) Aber diesen Maßstab lege ich hier natürlich gar nicht erst an – es gibt ein anderes untrügliches Zeichen dafür, dass ich mich praktisch kurz davor befinde, nicht mehr von dieser Welt zu sein: ich hab kein Handy-Netz.

Das sitzt! Und weil ein Unglück selten allein kommt: Internet kann ich mir gleich ganz abschminken. Falle in eine Art Schockstarre. Als ich langsam wieder zu mir komme, schießt mir die immer selbe Frage durch den Kopf: Wie soll ich so leben? Ohne Kontakt zu Familie und Freunden, ohne Zugang zum Online-Banking, ohne Zugriff auf Seiten zu Reiserouten, Verkehrsmittel, Unterkünfte, Jobbörsen... und letztlich auch ohne Möglichkeit zu bloggen. Muss mich damit auseinandersetzen, dass ich plötzlich unangeschlossen bin. Off-air, out of space, end of announcement!

Romantisches Steghaeuschen

Sonntag, 28. April
Das Gefühl, abgeschnitten zu sein, beschäftigt mich noch immer. Hätte es mich vielleicht stutzig machen sollen, dass von den Kanadier, denen ich in Vancouver von meinen Reiseplänen erzählt habe, nicht ein Einziger wusste, wer oder was Fraser Lake ist – geschweige denn wo. Hm? Jedenfalls soll dieses Highway-Kaff nun meine einzige Anbindung an die Zivilisation sein. Für die Hundert Seelen, die hier im Umkreis vieler Quadratkilometer leben, ist dieses Örtchen erste Andockstation.

Fraser Lake ist auch so eine staubig-schäbige Infrastrukturinsel für Fernfahrer. Für uns bietet sie aber den Zugriff auf das Nötigste zum Leben. Im Schellrestaurant des Motels gibt es sogar W-Lan. Yes! Yes, we can! Kleiner Wermutstropfen: Der Trip in die „Stadt“, wie mein Farmer sagt, dauert fast eine halbe Stunde mit dem Auto. Logisch, dass er da, wenn möglich, nur 1 Mal die Woche hin möchte. Aber hey, ist besser als gar nichts. Bin wieder im Spiel, ich lebe!

Montag, den 29. April
Nehme mit diesen Aussichten sogar klaglos hin, dass am nächsten Tag unerwartet der Strom ausfällt. Der Wind muss irgendwo einen Baum umgelegt haben, der auf die Leitung gefallen ist. Das passiere hier regelmäßig, erfahre ich, die Reparatur dauere aber höchstens ein paar Tage, manchmal sogar nur ein paar Stunden. Aha.

Haufen Feuerholz

Historisches Windrad

Welliger Francois Lake

Schiebe jeden negativen Gedanken beiseite. Wofür braucht ein Ganzer Kerl schon Strom? Das wär doch gelacht! Trotzdem schluckt dann selbst der Naturbursche in mir, als ich checke: Wasser gibt’s genauso wenig. Die Pumpe unten im See ist halt auch auf Saft angewiesen. Zum Glück müssen wir am Ende nur einen Tag lang mit Eimern und Armkraft dafür sorgen, kochen, waschen und spülen zu können. Zumindest vorerst. Bin schon ein Abenteurer.

Ostend Francois Lake

Übrigens, die Weiten die dieses Land aufweist, beeindrucken mich jedes Mal auf´s Neue. Dass ich nach der ganztägigen Bustour hier hoch – auf der ich praktisch mit 1000 Kilometern Fahrstrecke, Deutschland hätte so gut wie 1 Mal komplett durchqueren können – mich noch immer in der gleichen kanadischen Provinz befinde, hat ich ja schon mal erwähnt. Ein zweites eindrucksvolles Beispiel liegt mir nun mit dem Francois Lake jeden Tag vor der Nase: Dieser ist gut überschaubar eine gute Meile (rund 1,6 Kilometer) breit, dafür aber 86 Meilen lang. Eine Strecke mit der man von Potsdam locker bis nach Magdeburg käme, vielleicht sogar von Potsdam nach Leipzig. Kann das gerade nicht genau prüfen. Vielleicht erinnert sich der Eine oder Andere daran, dass ich eine gefühlte halbe Weltreise von google maps entfernt vor mich her vegetiere.

Francois Lake im surreal wirkenden Abendlicht

However, wer sich hier im Wald verläuft, kann schnell mal für immer weg sein. Jedes Jahr gehen hier Dutzende Menschen verloren, ohne dass jemals aufgeklärt werden kann warum bzw. dass ihre Leichen gefunden werden. Mein Reiseführer rät daher, möglichst nicht allein zu gehen. Und wenn doch, Jemandem die ungefähre Route zu hinterlassen. Mach ich! Bei aller Action, die ich hier suche, hab Respekt vor der Wildnis.

Farmer Cliff mit Stierschaedel

Da fällt mir ein, meine so herzzerreißend geschilderte und wunderbar wild anmutende Unangeschlossenheit muss ich leider schon nach den ersten paar Tagen ein wenig relativieren. Grund: Der einwandfreie Satelliten-Empfang für das Fernsehgerät. Schade eigentlich, irgendwie untergräbt das eine spannende Natur-Einsiedler-Geschichte.

Lagerfeuer vor Cliffs Haus im höher gelegenen Teil der Farm

Obgleich ich schnell versöhnt bin. Denn auf den über 600 Kanälen finde ich Movie-Channel, die jeden Tag mehrere aktuelle Blockbuster spielen, Sportkanäle, die alle Play-Offs der nordamerikanischen Profiligen ausladend präsentieren und sogar einen Spartensender, der morgen Mittag, das erste Halbfinalrückspiel der Champions-League live überträgt.

Gebe also zu, im Nirgendwo doch noch ´ne Menge von meiner angestammten Lebenswelt mitzubekommen. Nur ein richtig gut gemachter, schaumiger Cappuccino, der fehlt mir hier wirklich.

Samstag, 4. Mai 2013

Der vergessene Colt

Donnerstag, 25. April
Starte mit einer kleinen Sensation in den Tag: Als ich gegen 5:00 Uhr meine Augen aufschlage, bin ich tatsächlich vor meinem Wecker dran! Putzmunter. Auf einmal. Tse, was so ein Reisetag alles mit sich bringt. Dabei klingt es nur bedingt verlockend, den ganzen Tag, eingepfercht auf ein und demselben Platz, im Bus durch das zweitgrößte Land der Welt zu gondeln. Scheine trotzdem ein wenig aufgeregt zu sein. Naja, kenne schließlich Greyhound bisher nur aus Hollywoodfilmen – wird schon was Besonderes sein.

Pose mit Gepäck vor Fernbusbahnhof

Habe dann auch genug Zeit, nach dem Besonderen Ausschau zu halten. Trotz des ausgedehnten Morgenspaziergangs in den Sonnenaufgang – einem mit 20 Kilo bepackten Fußgänger können selbst 45 min lang vorkommen – erreiche ich den Busbahnhof mehr als 1 Stunde vor der geplanten Abfahrt. Aber hat auch sein Gutes: Muss beim Gepäckwiegen nicht anstehen. Wie ich später bekomme, bleibt mir dadurch sogar noch ´ne Sicherheitskontrolle erspart. Schlichtweg deshalb, weil die Uniformträger ihren Posten vor dem zentralen Ausgang zu den 2 Dutzend Bahnsteigen erst pünktlich um 7:00 Uhr beziehen. Frag mich, ob das für „Schläfer“ wohl früh genug ist.

Fahrplan mit Stationen

Gefesselt wird meine Aufmerksamkeit letztlich aber von einer anderen Tatsache. Habe gerade Tagebuch und Kugelschreiber heraus gekramt, um die restlichen 25 min bis zur Abfahrt mit etwas Sinnvollem zu überbrücken, da startet der Busfahrer den Motor. Stopfe alles schnell wieder ins Handgepäck, prüfe hastig noch mal Busnummer sowie Bahnsteig und stelle mich deutlich sichtbar vor den Bus. Nicht das der Kerl mich übersieht und ausversehen ohne mich losfährt.

Stattdessen ernte ich einen leicht verwirrten Blick. Der Busfahrer steigt aus, geht mit verantwortungsbewusster Miene und zügigen Schrittes um sein Gefährt, öffnet die Ladeklappen und verschwindet. Stehe da wie bestellt und nicht abgeholt. Immer bereit, einer möglichen Anweisung zu folgen. Nach einer Viertelstunde schwindet mein Elan. Bin zwar noch ein wenig aufgewühlt, aber vom Busfahrer ist, weit und breit nix zu sehen. Nur der Motor läuft fleißig. Guten Morgen, liebes Kyoto-Protokoll!

Oder eher: Gute Nacht! Denn das erste Mal wieder ausgemacht wird der Bus sage und schreibe 8,5 Stunden später – vermutlich aber auch nur deshalb, weil es an der Zapfsäule vorgeschrieben ist. Ansonsten darf die Dreckschleuder bis dahin sämtliche Pausen hindurch weiter im Takt Dreck schleudern.

Berglandschaft aus Busfenster

Flusschnelle

Fluss im Tal neben Straße

Habe zu diesem Zeitpunkt allerdings längst 2 andere Erkenntnisse gewonnen: Zum einen, war es eine großartige Idee des Farmers, auf dessen Weg zu ihm ich mich befinde, tagsüber zu fahren. So offenbaren sich mir in den zahlreichen Gebirgspassagen Panoramen, die mir den Mund offen stehen lassen. Zum anderen, wird mir nicht zuletzt an den zusteigenden Mitfahrern mehr und mehr klar: ich bin auf dem Land. Und zwar weit, weit weg von dem, was ich als Zivilisation empfinde.

Das Blöde daran: Mit meinen romantischen Vorstellungen von Trappern, die hier im dünnbesiedelten Norden Kanadas im Einklang mit der wilden, größtenteils unberührte Natur leben, hat das alles wenig zu tun. Die kleinen Nester alle 50 Kilometer am Highway sind eher Inseln der nötigsten Infrastruktur. Tankstelle, Motel, Supermarkt, Bank und ein Imbiss. Vielleicht noch ´n Liqour-Store. Aber für Arzt, Autowerkstatt oder Baumarkt sollte man vorher schon genau recherchieren.

Exemplarisches Highwaystädtchen

Auf jeden Fall machen die Orte alle einen ziemlich runtergekommenen Eindruck. Einige vereinsamte Bretterbuden versprühen noch am ehesten so etwas wie Wild-West-Cowboy-Charme. Fahre aber in der Regel durch dreckige Siedlungen aus Beton-Containern. Hier dominiert versifftes Fernfahrer-Flair. Farbige Häuserwände sehe ich keine, dafür umso mehr schäbige Fassaden inklusive übergroßer, nicht minder defekter Reklame-Schilder, verrostete Monster-Pick-Ups oder dürftig zusammengeknüpperte Stromleitungen. Spüre, wie sich in mir auf gewisse Weise alles ein wenig zusammenzieht.

Kämpfe auch gegen den aufsteigenden Ekel vor den ebenfalls abgeranzt wirkenden Menschen, die hier leben und den Bus jede Station weiter füllen. Allein mein Sitznachbar bringt es fertig, den Abfall auch schon mal auf den Fußboden zu befördern, eine im Plastikbeutel ausgelaufene Bierdose aus dem nun tropfenden Beutel auf Ex zu trinken (bekleckern inbegriffen), um das Gebräu nicht wegschütten zu müssen und seinen verschwitzten Arm dauerhaft und selbstverständlich auf unserer gemeinsamen Armlehne zu platzieren.

Neben den zumeist zerschlissenen Arbeitsklamotten fallen mir bei diesen Zeitgenossen noch zwei weiter Merkmale ins Auge, die überdurchschnittlich oft übereinstimmen: sie tragen ein Basecap und sie haben schlechte bis kaum mehr Zähne im Mund. Die Gespräche, die sie untereinander führen, sind laut, teilweise quer durch den Bus und oft von schnoddrigem Gelächter durchzogen. Fühle mich fremd.

Bin ich ja auch. Stell mir vor, wie die Anderen mich wohl sehen. Vielleicht als schnöseligen Städter, der sich in ihre Gegend verirrt hat. Einen dieser Möchtegern-Abenteurer, die sich damit brüsten wollen im rauen Norden gewesen zu sein, sich dann aber schon in die Hose machen, wenn ihre Klamotten mal ´n bisschen Schlamm abbekommen. Oder einfach nur, weil ´ne Maus durch die Fast-Food-Bude rennt.

Hab keine Ahnung, was in ihren Köpfen vorgeht. Ein nettes Gespräch kommt jedenfalls nicht zustande. Wahrscheinlich liegen sie mit ihrer Einschätzung genauso richtig oder daneben wie ich mit meinen oberflächlichen Bewertungen und voreiligen Schlüssen. Glaube, alles in allem wirke ich in dieser Szenerie mindestens genauso strange. Meine Erkenntnis des Tages: Toleranz tatsächlich zu leben, ist mitunter schwieriger, als sie von der Couch aus zu fordern.

Trotzdem: Merke, wie ich mich innerlich ungewollt hochspule. Werd einfach den Gedanken nicht los, hier unter Menschen zu sein, die fernab der urbanen Welt, ihre eigene Vorstellung von Recht haben. Nach dem Motto: Hängt den Bastard erst mal, dann können wir immer noch klären, ob er Schuld hat! Vermutlich hab ich einfach zu viele Filme über kautzige Südstaatler in den USA gesehen. Dennoch: Zu meinem allgemeinen Unwohlsein gesellt sich nun ein Fünkchen Angst. Zu dumm, dass ich bei meinen Reisevorbereitungen den Colt vergessen hab.

Cowboyland

Kühe auf Weide

Dann ein Geistesblitz: Bewege mich in einer fremden Kultur. Nein? Doch! Orrrh. Es dämmern mir weitere kolossale Erkenntnisse, etwa: Bin sogar freiwillig hier. Nein? Doch! Uih. Oder wie: So exotisch wie auf ´nem kleinen Kannibalen-Archipel geht´s ja hier nun auch nich gerade zu. So sieht´s mal aus!

Ein kurzer Moment gedanklicher Klarheit. Nutze ihn, in dem ich mich inständig ermahne, offen, tolerant und neugierig zu bleiben! Was hab ich denn erwartet – einen zweiten Park Sanssouci? Hab mich aufgemacht, in eine andere Welt abzutauchen. Also bitte! Dass dieses andere Ende unseres Planeten auf mich im ersten Moment ein bisschen abgehalftert wirkt, geschenkt. Besiegle meinen inneren Dialog mit dem Entschluss, diese Fahrt als bewegende Erfahrung abzuspeichern.

Und doch bleibt die Frage, was genau ich hier eigentlich mache, in meinem Kopf irgendwie präsent. Eine Frage, die mir während dieser Reise vermutlich noch öfter begegnen wird. Bin jedenfalls heilfroh, nach 12-stündiger Tour, den Bus in Prince George, einer der größeren Städte hier oben, verlassen zu können. Zwar schmerzt mein Hintern, aber dafür entkrampfen sich langsam die Innereien.

Zum Glück ist mein Farmer so nett und holt mich hier ab. Er heißt Cliff, begrüßt mich mit einem Lachen und sieht vergleichsweise ziemlich gepflegt aus. Zusammen mit seiner 80-jährigen Mutter bildet er das Empfangskomitee. Alles ist sehr herzlich. Juchhe, ich bin unter Menschen. Da nehm ich doch gern auf mich, dass wir jetzt noch weitere 2 Stunden mit dem Auto nach Westen zu fahren haben.

Baumstämme für die typischen Blockhäuser

Kommen im Dunkeln dort an. Cliff zeigt mir mein neues Zimmer und ich bin nun in Fraser Lake. Das ist immer noch in der gleichen kanadischen Provinz – British Columbia – aber trotzdem gut 1000 Kilometer von Vancouver entfernt, wo ich am morgen gestartet war. Für große Erste Eindrücke fehlt mir inzwischen die Kraft. Als ich hinter mir die Tür schließe, schaffe ich es gerade noch, den Schlafsack auszurollen und mich hinein zu kuscheln. Dann fallen mir die Augen zu – und zwar genauso schlagartig, wie sie 18 Stunden zuvor aufgesprungen waren.

Dienstag, 30. April 2013

Snowboard & Bikini

In meiner Klischeekiste zu Kanada findet sich gleich neben den mächtigen Grizzlybären, einsamen Trappern und dem farbenprächtigen Indian Summer eine der härtesten Sportarten der Welt: Eishockey. Die Kanadier sind verrückt nach diesem temporeichen, körperbetonten Spiel. Mehrmals pro Woche treten die rauen Burschen, die so unglaublich kunstvoll Schlittschuh laufen können, in der nordamerikanischen Liga NHL gegeneinander an.

Die riesigen Arenen fassen gerne Mal 15-Tausend Zuschauer und mehr – und sind selbst unter der Woche rappelvoll. Klingt für mich nach ´nem unterhaltsamen Spektakel. Beschließe, mir ein Spiel live anzusehen - wenn ich schon noch in der Stadt bin, wenigsten ´n bisschen was Wildes.

Montag. 22. April
Gucke auf den Spielplan und ha, es steht sogar ein Spitzenspiel an: die Vancouver Canucks empfangen die Blackhawks aus Chicago. Beide Teams belegen einen Spitzenplatz in der besten Eishockey-Liga der Welt. Kurz vor den saisonentscheidenden Play-Offs dürfte die Partie für alle Beteiligten ein echter Gradmesser sein. Freue mich. Doch dann die Ernüchterung: bevor die Kerle nach dem Puck jagen, muss ich mich erst mal um ´n Ticket prügeln.

Natürlich nur im übertragenen Sinn. Aber ein Blick auf die Preise macht schon klar, hier geht´s ordentlich zu Sache. Das vergünstigste Vergünstigungsticket liegt bei 68 kanadischen Dollar. Nur bin ich leider kein behinderter Student, der eine Vereinsmitgliedschaft beantragen möchte. Die normalen Eintrittskarten beginnen je nach Platzkategorie bei 75, 90 bzw. 105 Dollar. Soviel will ich nicht ausgeben. Oder: soviel kann ich nicht ausgeben.

Fühle mich auf eine gewisse Art herausgefordert. Na das wollen wir doch mal sehen, ob ich da nicht auch günstiger reinkomme. Fühle mich mit einem As im Ärmel ausgestattet, weil mir der überaus freundliche Bankmitarbeiter, bei dem ich mein Konto eröffnet habe, als eingefleischter Canucks-Fan, der für 300 Dollar die Karte kaum ein Heimspiel seiner Mannschaft auslässt, den unbeschreiblichen guten Tipp gegeben hat: Komm einfach ´ne Viertelstunde nach Spielbeginn zum Stadion, dann verscheuern die Schwarzmarkthändler die Karten für´n Appel und ´n Ei. Genial, so mach ich´s:)

Lege mein Budget auf 20 Dollar fest und laufe pünktlich nach Spielanpfiff los in Richtung Rogers-Arena. Als ich dort knapp 20 Minuten später ankomme, versucht tatsächlich ein halbes Dutzend Händler, aufgeregt die letzten Karten an den Mann zu bringen. Zwei dubios aussehende Kerle entdecken mich zur gleichen Zeit, liefern sich ein kleines Wettrennen in meine Richtung. Wie viel Karten willst du, fragt mich der etwas Schnellere. Antworte, eine reicht mir, hab 20 Dollar.

Wie enttäuscht bin ich, als der eben noch auf mein Geld geifernde Typ mir daraufhin noch nicht einmal ´ne wütende Bemerkung entgegen schleudert. Da kommt nix. Keine Reaktion. Werde von einer Sekunde auf die andere ignoriert. Der Blick des Typen schweift schon wieder über den Vorplatz des Stadions. Ich bin Luft. Glaube, mehr Abfälligkeit geht kaum.

Auch bei den anderen Typen perle ich ab, wie Wasser an der Feder eines Blackhawks. Allerdings schaffe ich es hier und da schon mal bis in einen Disput. Wenn ich nicht mindestens 60 Dollar zahlen wolle, sollte ich lieber nach Hause gehen, raunt mir ein Dealer zu. Mit hochgezogenen Augenbraue weist er mich daraufhin, dass hier sei die NHL. Profi-Eishockey! Dankbar für diese aufklärenden Worte entgegne ich so schnippisch, wie es mein Englisch zulässt, dass ich zwar nur Amateur sei, in Mathe aber so gut aufgepasst hätte, zu wissen, dass die Tickets schon bald 0 Dollar wert sind. Meine 20 dagegen, die wären doch was.

Bin mir gewiss, die Zeit läuft für mich. Schließlich interessiert mich das Spiel aus sportlicher Sicht nur sehr bedingt, mir geht`s darum, überhaupt mal dabei gewesen zu sein, ein NHL-Stadion von innen erlebt zu haben. Und vielleicht auch ein bisschen, um einen beeindruckenden Blogeintrag tätigen zu können. Wie auch immer, stehe noch `ne ganze Weile vor der Stadionhalle – natürlich ohne mir meine Siegessicherheit anmerken zu lassen, will die armen Kerle ja nicht provozieren – bevor diese nach und nach verschwinden.

Das Match ist inzwischen zu mehr als der Hälfte vorüber. Einen der letzten Dealer, der noch immer Karten in den Händen hält, hör ich noch sagen: Ach, da steht ja noch der billige Junge. Dann zieht auch er von dannen. So viel dazu. Muss irgendwie an meinen Bankberater denken, und frag mich, ob ich vielleicht doch hätte BWL studieren sollen.

Eishockeyarena der Vancouver Canucks

Glas Bier im kanadischen Pub

Mein Abend endet übrigens in einer der zahlreichen Sportsbars rund um die Arena. Die Canucks feiern einen überragenden 3:0-Sieg. Für die 20 Dollar bekomm ich immerhin zwei kleine Bier. Aber die reichen Einem wie mir auch aus, um die Welt mit anderen Augen zu sehen. Bin mir nach dem ersten Glas schon sicher, dass ich hier auf ungezählten Großbildschirmen mit den zig Zeitlupen ja wohl mal viel professioneller gucken kann, als die die armen Gäste in dieser überdimensionierten Eishockeyhalle. Und überhaupt, nach dem zweiten Glas lege ich für mich sogar fest: dieser ganze Kommerz macht den wahren Sport doch kaputt. Bei so was will ich gar nicht mitmachen. So!

Oeffentliche Tennisplaetze

Übrigens, wo ich gerade bei körperlicher Ertüchtigung bin, zwei Fakten haben mich überrascht: Offizieller Nationalsport Kanadas ist nicht Eishockey, sondern Lacrosse. Und die meistbetriebenste Sportart der Kanadier soll Golf sein. Hört, hört! Naja, wer hat, der kann. Dafür hat mich beeindruckt, dass es hier viele öffentliche Tenniscourts gibt. Die liegen in besten Umgebungen, von urban bis idyllisch und dürfen kostenlos benutzt werden. Cool!

Ziemlich sympathisch find ich auch die Möglichkeit, sein Fahrrad mit dem Bus mitnehmen zu können. An der Frontseite ist eine Haltevorrichtung montiert. Mit ein paar einfachen Handgriffen können da bis zu drei Rädereingehängt werden. Das ist doch ein Service. Zumal die Security gleich inklusive ist, weil der Fahrer zwangsläufig immer einen Blick drauf hat:)

Linienbus transportiert Fahrrad

Überhaupt könnte sich hier so Mancher aus der BVG noch ´ne Scheibe abschneiden. Fahrgäste begrüßen – teilweise sogar mit Namen – und auch quer durch den Bus freundlich verabschieden, gehört unter den Busfahrern zum guten Ton. Selbstverständlich auch: noch mal anzuhalten, wenn ein potentieller Fahrgast zum Bus gerannt kommt, obwohl dieser schon halb losgefahren ist.

Dienstag, 23. April
Das Championsleague-Halbfinale zwischen Bayern München und dem FC Barcelona steht an. Wow, was für eine Partie! Ringe kurz mit mir und beschließe, dem Kommerz seinen ungeheuer schlechten Einfluss auf den Sport, für 2 Stunden mal nicht ganz so krumm zu nehmen.

Leider ist es schwieriger als gedacht, einen Pub zu finden, der dieses Spiel auch überträgt. Ich fasse es nicht. Diese Bars, die gefühlte 7 Tage die Woche von morgens bis abends irgendwelche unglaublich wichtigen Spiele aus NBA, MLB, NHL, NFL zeigen, auswerten, bis ins Kleinste analysieren und teilweise sogar wiederholen, diese Bars fanden ein für sie undefinierbares european soccer-match nicht sonderlich spannend – zumal ein Halbfinale.

Bayernjubel auf Pubmonitor

Mit ein wenig Überredungskunst und viel Augenklimpern bringe ich in einer Sportsbar im Lesben- und Schwulenviertel Westend, den Barkeeper dazu, in einem der hinteren Programm nach europäischen Fußball zu suchen. Klappt. Toll! Dabei dürfte mir die Tatsache geholfen haben, dass der Laden so gut wie leer ist. Es ist nämlich 11.45 Uhr am Vormittag. Durch die Zeitverschiebung fällt die Live-Übertragung auf eben diesen, für die Königsklasse des europäischen Fußballs ungewohnten, Tagsesabschnitt. Einziger Nachteil: Ein Bier will mir jetzt nicht so recht schmecken.

Dafür versüßen mir die Bayern den Tag, mit einem kaum in Worte zu fassenden 4:0-Sieg gegen die wohl beste Vereinsmannschaft der Welt. Überglücklich möchte ich mich nun selbst ein bisschen bewegen und entscheide, die Stadt auch außerhalb von Downtown ein bisschen zu Fuß zu erkunden. Bin mehrere Stunden unterwegs, mache Dutzende Fotos und freue mich, außerhalb des touristisch durchdrungenen Zentrums auch mal mit „Ureinwohnern“ Vancouvers ins Gespräch zu kommen.

Vorgarten und Holzhaus im ursprünglichen Stadtkern

Die freuen sich über meine schier unbändige Neugierde und plaudern viel vom „old Vancouver“, in dem wir uns gerade befinden. Find ich irgendwie witzig, nach dem ich in einem meiner Reiseführer gelesen habe, dass die Stadt insgesamt mehr oder weniger wohl erst vor rund 150 Jahren angefangen wurde, zu bauen. Dafür ist heute an jeder freien Ecke der Pazifik-Metropole eine Baustelle zu sehen - metertiefe Baugruben, die Fundamente für spätere Wolkenkratzer oder Rohbauten die bereits hoch in den Himmel ragen.

Baukräne ragen in Abendhimmel

Glasfassaden dominieren das weltbekannte Stadtbild. Am meisten beindruckt mich aber, wie viel unterschiedliche Gesichter Vancouver zu bieten hat. Mitten im Herzen der Metropole prallen mannigfaltige Gegensätze aufeinander: Dem Großstadtflair stehen schöne, wenn gleich ein wenig spießig anmutende Einfamilienhäuser aus Holz gegenüber, natürlich inklusive Veranda und gepflegtem Vorgarten. Obwohl ich zugeben muss, jetzt in der Kirschblüte, wirken diese Straßenzüge regelrecht erstrebenswert.

Im krassen Kontrast dazu zeigen sich die schmuddeligen Ecken Chinatowns sowie der historischen Gastown. Aber ich persönlich kann dem dort anzutreffenden morbiden Charme durchaus etwas abgewinnen. Außerdem werden die Betonschluchten im Stanley-Park um schroffe Natur ergänzt. Teilweise fühle ich mich dort tatsächlich wie im Urwald.

Und das in Vancouver Meer und Berge aufeinandertreffen, dürfte ich ja bereits schwärmend erwähnt haben. Doch nie ist mir das so eindrücklich gewesen, wie am Mittwoch, den 24. April. Die Temperaturen klettern schon zeitig am Tag auf frühlingshafte 20 Grad. Fahre eine Station mit der Metro. Da sitzen mir ein Typ und ein Mädel gegenüber. Sie im Bikini mit Strandkorb und Beachvolleyball, er mit Snowboard und Helm unter´m Arm. Wo gibt´s denn sowas - strange. Mist, dass ich ausgerechnet jetzt meine Kamera mal nicht dabei habe?

Flutlichtbestrahlte Skipiste hoch über Stadt

Unterschwellig, aber irgendwie doch stetig, such ich nach Motiven für aussagekräftige Actionfotos. Überlege kurz, später selbst im Strandoutfit auf die Skipiste zu gehen. Verwerfe die Idee aber, weil mir das dann doch ein wenig zu cool zu sein scheint. Die Piste hoch über der Stadt hat übrigens Flutlicht und ist jeden Tag bis 23 Uhr geöffnet. Um die Uhrzeit bin ich allerdings lieber in Downtown unterwegs, wo sich jeden Tag vor einem anderen Nachtclub Trauben von aufgedonnerten, lebenslustigen Menschen bilden. Und allen Kerlen unter Euch kann ich nur sagen – oh Mann, hier scheint ein echter Frauenüberschuss zu herrschen.

Strandabschnitt mit Palmen

Genieße mein selbstzubereitetes Abendessen als Picknick am Strand. Bei Sonnenuntergang. Werde plötzlich doch ein wenig traurig, dass ich inzwischen das Greyhound-Bus-Ticket gelöst habe, das mich morgen (Do., 25.4.) in den Norden von British Columbia bringen soll. Dort warten einsame Wälder und schroffe Gebirge mit vielen Seen. Da wird mir bewusst: ach, stimmt ja, deswegen bin ich ja eigentlich hier. Jetzt kann das Leben wirklich wild werden.

Sonntag, 21. April 2013

Großstadtdschungel

Hey Everybody,

einfach mal raus, den Alltag hinter mir lassen - davon habe ich eine ganze Weile geträumt. Nun ist so weit. Seit Anfang der Woche bin ich in Kanada, vor mir: ein Abenteuer! Wer mag, kann es auf diesem Blog hier gern verfolgen. In den kommenden 5 Monaten werde ich versuchen, wöchentlich einen kleinen Einblick in das zu geben, was ich hier erlebe. Und natürlich wie es sich für mich anfühlt. Ein episodenhafter, in jeder Hinsicht ungeplanter, nicht immer ganz ernst zu nehmender und absichtlich alles andere als perfekter Reisebericht, für all jene, die sich für mich oder meinen Weg interessieren. Hope, you enjoy!

Die erste Woche hat es bereits in sich: Dass ich den etwa 13-stündigen Hinflug am Montag, den 15. April, mit ein wenig Bauchschmerzen antrete, sollte sich bald als verständlich herausstellen. Anfang Dezember 2012 sollte die Bewerbung um die limitierte Anzahl von Work-and-Travel-Visa ursprünglich starten. Die kanadische Botschaft hat in diesem Jahr allerdings ihre Abläufe geändert und auf ein mehrstufiges Verfahren umgestellt, das ausschließlich Online funktioniert. Dabei gab es offensichtlich größere technische Probleme. Jedenfalls ging es erst Mitte Februar los mit einem bürokratischen Drama in diversen Akten. Einzelheiten ich Euch gern. Nur soviel: die durchschnittliche Bearbeitungsdauer ist mit rund 8 Wochen angegeben. Aber der Hinflug für Mitte April war längst gebucht, schließlich soll die Reisekasse nicht schon in der Atmosphäre in Turbulenzen geraten. Somit war klar: Es wird ein Rennen gegen die Zeit.

Blick aus Flugzeugfenster auf Schneegipfel

Die gute Nachricht: habe einen der begehrten 4000 deutschen Bewerberplätze ergattern können. Die Schlechte: muss den Flieger von Tegel über Amsterdam nach Vancouver besteigen, ohne ein Visum in den Händen zu halten. Das Ende vom Lied: für die pflichtbewussten - oder vielleicht auch nur ein bisschen gelangweilten - Zöllner am Flughafen der beliebten, westkanadischen Metropole bin ich ein gefundenes Fressen.

In einem Seitentrakt der Passabfertigung üben sich gleich 3 humorbefreite Staatsbeamte darin, einen zunehmend verunsicherten Deutschen, mit skeptischen Fragen zu löchern. Wie lange ich bleiben wolle, was der Zweck meiner Reise sei, welchen Beruf ich ausübe, warum ich das Visum noch nicht habe und vieles mehr, was sich aus den Antworten ableiten lässt, wollen die strengen Uniformträger wissen.

Um mich keinesfalls in irgendwelche Widersprüche zu verstricken, stotter ich in bestem, 15 Jahre abgehangenen Schulenglisch von Anfang an die Wahrheit - dass ich als Tourist einreisen möchte, um mir ein wenig Vancouver anzuschauen und plane, so schnell wie möglich mit dem von den nur suboptimal arbeitenden kanadischen Behörden hoffentlich bald mal bescheinigten Visum - nach kurzem USA-Trip - neu einzureisen. Dann als offiziell Zeitweise Arbeitsberechtigter. Mhh, die Stirn meines Gegenübers zerfurcht sich in immer tiefere Falten. Falls überhaupt möglich, wird nun noch haspliger, was ich versuche, unerschütterlich selbstbewusst mit den Englischkenntnissen auszudrücken, die ich durch diese Reise eigentlich verbessern wollte. Seufz!

Bekomme mit, wie in einem separaten Nachbarraum Reisende hinter verspiegelten Scheiben anscheinend schon seit Stunden ausharren müssen. Neben einigen Asiaten hockt dort ein wütender Nordafrikaner, eine attraktive Mexikanerin und eine indische Großfamilie. Was sie gemeinsam haben, sie sehen unglücklich aus. Und irgendwie auch hoffnungslos. Muss gestehen, in diesem Moment steht mir der Angstschweiß schon auf der Stirn. Eigentlich sogar nicht nur da. Male mir bereits das Gespött deren aus, bei denen ich mich seit einem gefühlten halben Jahr vollmundig und unerschrocken ins große Abenteuer verabschiedet habe. Wie könnte ich denen wohl die Geschichte erzählen, dass ich keine Woche später zurück im schönen Deutschland bin, ohne dabei allzu blöd auszusehen. Ich meine, als braver EU-Bürger vom megaliberalen Kanada nicht mal als Tourist akzeptiert zu werden, das muss erst mal einer schaffen.

Uff! Ausgerechnet mich soll es treffen, mich, den überkorrekten Neunmalklug, den oft unnötig vorausplanenden Sicherheitsfanatiker? Denke so bei mir: Geschieht ihm Recht, diesem verkopften Akademiker. Was bildet der sich eigentlich ein - dem Leben mal spontan begegnen, die Fesseln des Vorausdenkens ablegen, aus'm Bauch raus leben - phh, das is was für Profis, so was muss man vorher bestimmt üben!

Dann die Erleichterung. Weil ich in meiner Not intuitiv eine Antragsnummer aus den bewusst spärlich gehaltenen Reiseunterlagen nestle, kommen die Beamten auf die atemberaubende Idee, vielleicht mal anhand ihrer Computer-Datenbank zu prüfen, was an meiner ach so unglaubwürdigen Geschichte unter Umständen dran sein könnte. Wenige Minuten später kommt einer der Zöllner aus dem Büro zurück. Und siehe da, das fertig genehmigte und von der Behörde gestempelte Original-Visum lag bereits seit einer Woche am Flughafen - inklusive der so wichtigen temporären Arbeitserlaubnis.

Das hätten wir auch schon mal 2,5 Stunden früher checken können. Aber da war ich wahrscheinlich noch zu sehr damit beschäftigt, mich einfach mal ganz locker zu machen. Außerdem: ein bisschen Adrenalin nach einer ganztägigen Reise kann ja nicht schaden. Fühl mich jedenfalls wieder richtig wach, als ich zwar ziemlich durchgeschwitzt, dafür aber mit einem kleinen, bunten, in meinen Reisepass getuckerten Stück Papier endlich aus dem Flughafen schreite.

Arbeitserlaubnis für Work&Travel-Visum

Durch die Zeitverschiebung ist es da gerade mal Nachmittag, während mein Körper auf so was wie deutlich nach Mitternacht gepolt war. Drücke die Brust raus und beschließe, das Ganze positiv zu sehen. Vielleicht wollten mir die Zöllner nur eine Gratis-Portion Adrenalin spendieren. Soll ja den Jetlag erleichtern. Wie auch immer, hatte vorher keine Ahnung, wie stolz ich auf ein Stück Papier sein könnte, das es mir erlaubt, mich als billiger Gelegenheitsarbeiter auf einem anderen Kontinent ausbeuten zu lassen. Glaube, mein Abenteuer beginnt schon in der Großstadt.

Porträt mit Reise-Western-Hut in Davie St

Das urbane Dickicht hält mich aber auch den folgenden Tagen in Schach. So steht gleich am folgenden Tag, Dienstag, den 16. April, ein Orga-Tour durch Vancouver auf dem Programm. Konkret heißt das: Sozialversicherungsnummer (sin) beantragen, Bankkonto eröffnen, den geeignetsten Handyanbieter herausfinden und natürlich eine bezahlbare Bleibe finden. Denn das Hotel, das ich für die ersten zwei Nächte - so ganz spontan - vorsorglich von Deutschland aus gebucht hatte, kann ich mir auch auf kurze Dauer kaum leisten.

So lande ich nach ein bisschen Recherche bei einem Hostel in Downtown. Gucke dort auch gleich vorbei und bin überrascht - macht einen guten Eindruck. Nix da von den Horrorgeschichten, die kursieren, wonach sich Horden rüpeliger Jungerwachsener auf ihrem internationalen Partytrip regelmäßig nach durchzechten Nächten in ihre bis zu 12-Betten-großen Schlafsäle übergeben. Nein, hier geht es auf den ersten Blick gediegen zu. Dazu zentral gelegen und mit 220 kanadischen Dollar pro Woche (rund 164 Euro) einigermaßen erschwinglich.

Das Beste daran: die große Gemeinschaftsküche. Hier schlägt das Herz des Hostels. Gute Geräte, viele Werkzeuge und vor allem die vorhandene Sauberkeit laden dazu ein, sich gern selbst zu versorgen. Eine Tätigkeit, die ich im stressigen Alltag leider nur allzu oft als zusätzliche Last empfinde. Dabei ist es doch so elementar, sich bewusst zu ernähren. Die Möglichkeit, das hier selbstverantwortlich umzusetzen, nehme ich freudig als Geschenk an. Außerdem treffe ich hier jede Menge Menschen aus jedem Teil der Welt - zu meiner Verwunderung auch aus allen Altersschichten. Tolle Gespräche. Offen. Und so tiefgründig, wie es die Sprachkenntnisse jeweils zu lassen. Alles in allem aber ein unglaublich multikultureller, kommunikativer Ort - aus meiner Sicht, Völkerverständigung im besten Sinne. Und sauber machen alle zusammen. Echte Teamarbeit:)

Gemeinschaftsküche im Hostel

Freitag, den 19. April. Trotzdem bleibt es für mich gewöhnungsbedürftig, zu viert in einem Zimmer zu schlafen und zu hausen, das vermutlich keine 15m² groß ist. Spüre zum ersten Mal ganz deutlich, wie wichtig mir Privatsphäre ist. Andere mögen diese Erfahrung schon früher oder an anderer Stelle gemacht haben. Ich jedenfalls sehne mich jetzt schon hin und wieder nach Hause, noch vor Ende der ersten Woche, wow! Das Kuscheln, Toben und Spielen mit der Familie fehlt mir am meisten.

Enges 4-Bett-Zimmer

Umso besser gelingt es, tagsüber loslassen zu können. Nur mit mir zu sein, keine Pflichten zu haben, keine Verantwortung für Andere zu tragen - das hilft mir ungemein, Kraftreserven aufzuladen. Und das wiederum ist die Grundvoraussetzung, auch meinen Mitmenschen Geben zu können. Trotzdem meldet sich hartnäckig ein kleiner Rest schlechtes Gewissen. Einen gesunden Egoismus zu finden, fällt mir schwerer als ich dachte.

Hab Mittwoch(17.4.) und Donnerstag(18.4.) größtenteils damit zugebracht, die Stadt per Fuß zu erkunden. Dabei sind eine Menge Fotos entstanden. Sie sollen diesen Blog in Kürze lebendiger machen. Die meisten Motive spiegeln das wahnsinnig vielfältige Stadtbild wieder. Aber auch die Menschen hier, beeindrucken mich. Die Lebensart in Vancouver kommt sehr unaufgeregt und lässig daher. Mir begegnen zumeist zufriedene Gesichter. Einheimische, denen es wichtig ist, freundlich, rücksichtvoll und respektvoll miteinander umzugehen.

Yachthafen vor verglasten Wolkenkratzern

Auch der für Nordamerika so typische Smalltalk scheint mir hier aufrichtiger zu sein, als er oft dargestellt wird. Mir fehlen leider persönliche Vergleichswerte. Aber wie auch immer, ich finde es ausgesprochen angenehm, an der Supermarktkasse in ein kleines Schwätzchen verwickelt werden zu können, ohne dass die Menschen in der Reihe dahinter sich dadurch gestört fühlten. Im Gegenteil, während die Kassiererin den Einkauf dann auch noch liebevoll in eine Tüte stapelt, klinken sich die Kandier sogar gern mal in ein Gespräch mit ein. An einer Aldi-Kasse in Berlin für mich nur schwer vorstellbar.

Bluehende Baeume vor Hochhaeusern

Hetzen und stressen ist also nicht angesagt in Vancouver, wie soll das dann erst in den abgelegenen Regionen werden? Naja, hoffentlich ein wenig preiswerter. Die Lebenshaltungskosten haben es nämlich in sich. Selbst für high-processed-food zahlt man hier schnell das Dreifache, mindestens aber das Doppelte dessen, was wir aus Deutschland gewohnt sind. So kostet die günstigste Packung Käse, die ich gefunden habe, stolze 6 kan.Dollar (rund 4,40 Euro). Zwar wird Bio groß geschrieben, für einen finanziell beschränkten Rucksack-Reisenden wie mich, ist vieles aber schlichtweg unerschwinglich. Ein Rindersteak ist im Supermarkt kaum unter 27 kan.Dollar (rund 20 Euro) zu bekommen. Einen guten Vergleich bietet auch der gute alte Döner, der ist hier nicht unter 6,50 (4,60 Euro) zu bekommen. Schmeckt trotzdem gut.

Merke schnell, ohne Job kommste hier nicht weit. Gucke daher schon am Samstag, den 20. April, stolz auf vier wagemutige walk-ins zurück, spontan initiierte Vorstellungsgespräche, in Läden, für die man sich berufen fühlt, tätig zu werden. Mit so einem persönlichen Auftritt, könne man sein besonderes Interesse, seine unerschütterliche Entschlossenheit ausdrücken, hab ich in einschlägigen Ratgebern gelesen. Ob mir das in den Sportgeschäften und Radverleihstationen gelungen ist, bezweifle ich mal. Mit einem freundlichen Lächeln haben die jeweiligen Bosse das in Kanada unumgängliche Résumé entgegengenommen. "Wir melden uns dann, ganz sicher", sagten sie. Einzig ihr besonderes Interesse und ihre unerschütterliche Entschlossenheit wollte ich bei diesen Worten nicht so recht spüren.

Dafür treffe ich in einem dieser Geschäfte, eine Deutsche, die sich inzwischen seit über 6 Monaten erfolgreich in Vancouver durchschlägt. Hilfreicher Kontakt. Treffe mich zusammen mit ihr und weiteren 'german friends' zum einen Burger und Bier im Pub. Erfahre, ne Menge über 'hard times' und 'unrealized dreams'. Dafür aber auch gute Tipps, wo und wie ich vielleicht doch an Gelegenheitsjobs komme. Baustellen suchen hier wohl immer. Finde, hat irgendwie wenig von Wildnis.

Egal, der Abend ist nett und für mich sind das ohnehin nur neugierige Gehversuche - falls ich doch noch mal hierher zurückkomme und mich über Wasser halten muss. Bis dahin hab ich aber andere Pläne. Ab in die Natur. Einen wichtigen Schritt dahin mache ich am heutigen Sonntag, den 21. April. Buche die Bustickets raus aus der Stadt. Mit Greyhound geht es in den nächsten Tagen rund 1000 Kilometer nach Norden, genauer gesagt nach Prince George. Von dort soll es dann noch mal 2, 3 Autostunden weiter gehen, endgültig weg von der uns bekannten Zivilisation. Wenn alles gut geht, lande ich dann in Fraser Lake, einem abgelegenen Plätzchen inmitten eines weiten seereichen Waldgebietes. Dort werde unentgeltlich für einen Farmer namens Cliff arbeiten - Blockhütten bauen, fischen, putzen und einiges mehr. Bin selbst gespannt. Als Gegenleistung gibt mir Cliff Bett & Brot. Und eine kräftige Portion Abenteuer:)

Meine erste Schreibwut dürfte dann auch raus sein. Verspreche, die kommenden Beiträge merklich kürzer zu halten. Außer ich treff 'nen Grizzley, der sich für meine Arbeitserlaubnis im Pass interessiert. Die Geschichte würde ich dann detailgetreu auskosten wollen;( Doch das ist Zukunftsmusik. Noch bin ich bis Mittwoch(24.4.) in Vancouver. Unter dem Strich eine faszinierende Stadt. Nicht nur weil hier gerade Kirschblüte ist, sondern weil hier ein einzigartiger Landschaftsmix zu finden ist: eine Millionenmetropole direkt am Meer, zugleich aber auch am Fuße eines Gebirges, das noch jetzt zum Skifahren einlädt - von den Parks, in denen man ohne weiteres vergessen könnte, innerhalb einer Stadt zu sein, weil sie Urwald-Charme versprühen ganz zu schweigen. Ein schöner Fleck Erde!

Uriger Waldsee

Beleuchtete Skyline vor Bergpanorama

Vielen Dank schon mal an alle, deren Interesse bis hierher gereicht hat! Freu mich übrigens über jeden Kommentar - egal wie kurz oder lang, wie anregend oder kritisch er auch ausfallen möge.

Liebe Grüße vom anderen Ende der Welt,
Euer Stefan Sperfeld.

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